Erster Teil
Verführung zum Denken
Lust
auf Denken?
Ausgerechnet zum Denken will ich
verführen, zu jenem angeblich sprödesten aller menschlichen Akte. Ich will Lust
machen, denkend einzudringen in das, was die Philosophen in ihrer unnachahmlich
bildhaften Sprache das »Sein« nennen. Wenn das Sein eine schöne Frau wäre, mit
wiegenden Hüften und...
Unterschätzen
wir nicht die Attraktivität des Seins und unsere vielleicht noch schlummernde
Lust, uns mit ihm, erkennend, zu vermählen. Schließlich sind wir ausgestattet
mit dem Gehirn, einem erotischen, überaus potenten Organ. Von unersättlicher
Neugier angetrieben, versucht es, sich Wissen einzuverleiben, Welt zu erobern.
Die Ejakulationen des menschlichen Geistes, »Kultur« genannt, sind unendlich.
An unzähligen
Fronten wird geforscht und »gemacht«. Das alles geschieht zwar noch ein bisschen
chaotisch, unkoordiniert und mit bedrohlicher Naivität; es könnte jedoch sein, daß jenes als »philosophisch« bezeichnete Bedürfnis, die
Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen, frischen Aufwind bekommt. Und wenn nicht
aus Lust, dann doch aus Not.
Manches
spricht dafür. Mathematiker, Physiker und Biologen – Naturwissenschaftler, die gewiss
nicht im Ruf philosophischer Neugier stehen – haben ihre heimliche Sehnsucht
nach dem »Ganzen« entdeckt und riskieren schon einmal einen Blick über die eng
gesteckten Grenzen ihres Fachgebiets. »Vernetztes Denken« heißt die neue
magische Zauberformel. Eine späte Renaissance der Philosophie also auf breiter
Front?
Philosophieren
– das ist kein Privileg elitärer Charismatiker. In jedem von uns steckt ein
heimlicher Philosoph. Gehören wir doch zur Gattung Homo sapiens, was bekanntlich soviel wie »wissender ...« oder
»weiser Mensch« bedeutet. Wäre es nicht geradezu lächerlich, beschämend,
paradox, wenn man den Homo sapiens zum Denken verführen müsste? Welches
Lebewesen zwischen Himmel und Erde muss man zu dem, was es als Spezies
definiert, verführen? Welche Blume zum Blühen, welchen Fisch zum Schwimmen und
welchen Vogel zum Fliegen?
»Homo
sapiens« – ist das nun legitimer Gattungsbegriff oder euphorisch-illusionäre
Zukunftsvision? Hätte man den Menschen dank pompöser Geschlechtsorgane und
überhitzter Sexualität nicht doch lieber »Homo supersexualis«
nennen sollen? Oder wenn man sich schon für dieses überdimensionierte Organ
Gehirn entschied, hätte es nicht die etwas sachlichere, durchaus zutreffende
Bezeichnung »Homo magnocerebralis« getan?
Kein Grund
zur Scham oder Betroffenheit! Nehmen wir einmal zu unseren Gunsten an, der
Mensch befände sich auf dem Weg zum Homo sapiens. Sein Superhirn liegt ja
keineswegs brach. Mehr als alle anderen Organe ist es in Aktion. Pausenlos wird
es mit Informationen bombardiert, mit Reizen überschwemmt. Bis in die letzten
Winkel seiner undurchsichtigen Windungen ist es besetzt. Billionen und
Aberbillionen unermüdlicher Neuronen sind damit beschäftigt, die anfallenden
Routinearbeiten zu erledigen. Für hochgeistige philosophische Spekulation
bleibt da, weiß Gott, kaum mehr Zeit und Energie übrig.
Wer kann
es sich schon leisten, mitten in hektischer Betriebsamkeit innezuhalten und auf
Distanz zu gehen? Es gäbe auch keine Wüste, in die wir uns zurückziehen, und
keinen Feigenbaum, unter dem wir wie Buddha, zwölf Jahre meditierend, auf die
Erleuchtung warten könnten. Wir sind keine Muselmanen, die, stundenlang bei
einer winzigen Tasse Mokka im Straßencafé sitzend, das Leben an sich
vorüberziehen lassen – gutgelaunte alte Männer mit diesem seltsam wissenden
Blick.
Unser
Platz ist nicht daneben und darüber, sondern mittendrin. Wir sind ganz dicht am
Leben, haben es fest im Griff. Wir wissen, wann und wo wir unsere geistigen
Energien gewinnbringend einzusetzen haben. Jenes hinterfragende Sinnieren hat
weder Markt- noch Unterhaltungswert. Die vielgerühmte,
leicht antiquierte Tugend Weisheit mag sich wie der goldene Schimmer der
Abendsonne über das Greisenalter legen. In der Mitte des Lebens, im Zenit,
herrscht grelleres Licht; hier gilt es, die Dinge anzupacken – nicht, sich
weltabgewandt in einen gläsernen Turm zurückzuziehen.
Dies ist
die Zeit der Macher, die ihr Ziel beherzt und direkt angehen, nicht stolpernd
in die Fallen kritischer Reflexion, blockiert von Grübelzwang und distanzierter
Bewusstheit. Spontaneität ist erfrischend. Jene altkluge, wie ein Bazillus
epidemisch sich ausbreitende Bewusstheit nimmt jeglichem sein Flair.
»Bewusst
leben«: noch bewusster, noch disziplinierter, noch vernünftiger? Zu wissen, dass..., zu wissen, wie... – das ist die Lust der kopflastigen Intellektuellen, die
nichts spontan genießen können: notorische Miesmacher, immer auf der Jagd nach
dem Haar in der Suppe. Bewusstheit hat uns die naive Freude an üppigen Speisen,
deftigen Genüssen und an bequemer Lebensart verdorben, ganz zu schweigen vom
schlechten Gewissen gegenüber wollüstigen Ausflügen in Exzess und Orgie. Zu
wissen, wie viele Millionen
Spermienzellen beim Liebesakt ausschwärmen und welche Muskeln wo kontraktorisch den »Orgasmusreflex« auslösen, das macht die
Liebe nicht unbedingt reizvoller.
Erstarren
nicht unter dem Eishauch tyrannischer Bewusstheit Intensität und Leidenschaft
wie glutflüssige Lava zu kalter, wenn auch bisweilen raffinierter Form? Und ist
das Diktat der Vernunft nicht der sichere Weg in die Depression?
Bewusstheit
bremst, kühlt ab, friert ein. Schlimmer noch: Dieser unselige Drang zu wissen
kann in schwindelnde Höhen, in abstrakte Schwerelosigkeit führen, aus der es
manchmal kein Zurück mehr gibt. Nicht ohne Grund hatten die erkenntnisbesessenen
Weisen und Erleuchteten nur zu oft einen fatalen Hang zu lebensfeindlicher
Askese, zum Nirwana. Ihre Entrücktheit brachte sie in gefährliche Nähe zu jener
Freiheit »total«, die den Namen »Tod« trägt.
Lasst uns einen Rest Unwissenheit –
das bißchen unbekümmerte, unreflektierte Lebenslust! Das
Leben hat sich ohnehin zu einem Großteil ins Zerebrale verlagert. Mal steht es
unter dem Diktat einer funktionalen Vernunft, mal spielt es sich im
schwerelosen All der Phantasie und Imagination ab. Verrücktheiten, erfrischende
Ausbrüche aus der Norm sind nicht mehr erlaubt. Abgeschnitten von der
Wirklichkeit, leben wir von ferne, als Zuschauer, audiovisuell und
televisionär.
Verschont
uns vor der kühlen Lust des Durchblicks. Erspart uns dessen röntgenologisch-schreckenerregende
Ästhetik. Gebt uns an mentalen Reizen, was wir dringend brauchen: Animation und
emotionale Vibration!