Die
Tugend des Glaubens
Es kann nicht nur an den Philosophen
liegen, die hilflos zwischen abstraktem Wesen und brillanter Oberfläche wie
zwischen Scylla und Charybdis manövrieren. Im Innern eines jeden einzelnen gibt
es eine Kraft, die das Denken nur zu gern blockiert und obendrein, zur Tugend
hochstilisiert, sich besten Ansehens erfreut. Die Rede ist vom »Glauben«.
Würde man
die Menschheit in Denkende und Glaubende aufteilen und gegeneinander abwägen,
die Waagschale würde zweifellos auf der Glaubenseite rasant absinken. Trotz
Aufklärung, Wissenschaft und hochgezüchteter
technologischer Rationalität befinden wir uns noch immer im Zeitalter des
Glaubens. Religionen, Ideologien und Systeme jedweder Art erfreuen sich einer
ungebrochen gläubigen Anhängerschar.
Politik,
Wirtschaft, Kunst und Kirche haben sich den Kuchen aufgeteilt. Auch wenn sie in
Grundsatzfragen nicht immer der gleichen Meinung sind, so herrscht doch ein
praktisches Stillhalteabkommen zwischen den Fronten. Man vermeidet Polemik und
offene Konfrontation. Im Zeitalter der nach Kirchen- und Parteienproporz
aufgeteilten, von der Wirtschaft abhängigen Massenmedien wird der »Freigeist«
mehr und mehr zum antiquierten Kuriosum, zumal wenn die Freiheit als das
Markenzeichen westlich moderner Kultur gilt. Es stimmt schon: Jedermann darf
glauben, was er will, nur – glauben, das tun sie alle.
Was macht
das Glauben gegenüber dem Denken so attraktiv? Warum verliert die nüchterne
Klarheit des Denkens allzu oft gegen den Rausch des Glaubens? Es lässt sich
unschwer erkennen, dass hinter dem Glauben die elementare Macht
undifferenzierter Wünsche und Ängste steht. Das Ich im Strudel der Geschichte –
angelockt, bedroht, verwirrt – sucht nach Erlösung aus seiner Bedrängnis.
Verständlich, dass es sich zunächst auf die Seite eines sich anbietenden
Heilsmythos schlägt und daran glaubt.
Glaube ist Wunschglaube, Glaube ist Erlösungsglaube. Letzte Gewissheit gibt es zwar nicht; um so
verlockender die Versuchung, die Hürde Ungewissheit mit einem beherzten, kühnen
Sprung zu nehmen und das von Zweifeln gefährdete Ich in die scheinbar sichere
Geborgenheit des Glaubens hinüberzuretten.
Die Vorteile des Glaubens sind
vielfältig. Er enthebt der Mühsal des Denkens. Denn
Glaubenswahrheiten sind Geschenke. Man erhält sie durch Gnade »von oben«, nicht
als verdiente Früchte harter Denkarbeit. Die Offenbarung der Gottgesandten, die
Kompetenz der Spezialisten weist den Weg durch das Dickicht des Lebens.
Väterliche
Autoritäten und mütterliche Institutionen hüten den Glauben und geben ihn mit
mehr oder minder pädagogischem Geschick – mal primitiv doktrinär, mal mit
sublimer Raffinesse – an ihre Kinder weiter. Sie sagen dir, »wozu du auf Erden
bist«: um Gott zu lieben – seine
Stellvertreter, die Mächtigen, den Wohlstand, dein Ich –, ihm zu dienen – seinen Stellvertretern, den Mächtigen, der
Konjunktur, deinem Ich – und dadurch
selig zu werden.
Der
Glaube, der immer der Glaube an das Gute ist, erspart dir die ganze Palette
negativer Gefühle. Er wirft den Mantel der Barmherzigkeit über alles
Furchtbare, Schreckliche, Hässliche, Grauenhafte, sogar über den Tod. Angst,
Zorn, Wut, Hass, Verachtung, Ekel, Trauer und Verzweiflung haben ihren Stachel
verloren. Leuchtet doch dem Glaubenden immer ein Paradies am Horizont entgegen!
Wer wird
sich quälende Gedanken machen über die Not und Widersprüchlichkeit der Welt,
wenn ein alle Probleme lösendes Happy-End in der Zukunft winkt? Da schluckt man
denn auch geduldig jene bittere Pille, »Moral« genannt, die den Gläubigen von
ihren Erlösern verabreicht wird. »Per aspera ad astra!« Durch Verzicht und
Selbstkasteiung ins Paradies!
Nicht, dass
im Dunstkreis des Glaubens nicht gedacht würde! Gläubige sind ja nicht
durchwegs dumm oder unheilbar naiv. Unter ihnen gibt es sicher ebensoviel
hochkarätige Intelligenz wie auf der Gegenseite. Nur, sie sind in ihrem Ziel
von vornherein festgelegt. Sie gebrauchen, oder besser gesagt, sie missbrauchen das Denken als
Erfüllungsgehilfen des Glaubens. Ihr Denken muß, das
verlangt der Glaube, in die geoffenbarte Wahrheit einmünden, sie exegetisch
untermauern.
Denken also, nicht als ein wirkliches
In-Frage-Stellen, sondern als ein Sich-Einrichten im
Vorgegebenen, notfalls ein Sich-Verbarrikadieren beim
Abwehrkampf gegen den Zweifel. Wenn es denn gar nicht anders geht, interpretiert
man fragwürdig gewordene Glaubensinhalte zwecks Rettung ihrer Attraktivität bis
zur Unkenntlichkeit neu oder um. »Rationalisieren« nennt dies die Psychoanalyse
– und einen »neurotischen Mechanismus«. Bekanntlich findet man für alles
»vernünftige Gründe«, wenn man nur lange genug sucht.
Und wo das
Rationalisierungsdenken an seine Grenzen stößt, da beginnt die wahre Tugend des
Glaubens. Wenn die Realität dem Dogma ins Gesicht bläst, es verspottet und wenn
das wankende Gerüst einzustürzen droht, dann ist es Zeit für das heroische
»Credo quia absurdum«: Ich glaube, gerade weil
es absurd ist! Trotzig-fröhlicher Kamikazeakt, freiwilliger Sturz in das zum
»Mysterium« erhobene Widersinnige.
Der Glaube
wird zum Glaubensakt, zur Erlösungstat. Was kann der Mensch seinem Gott oder
seiner Utopie Wertvolleres opfern als die Kraft seines Denkens, das elementare
Bedürfnis, zu verstehen? Unterwerfung radikal, ohne Wenn und Aber, unter eine –
unbewusst doch wohl als sadistisch beurteilte – Autorität, die ein solches
Opfer verlangt. Demut bis hin zur Selbstdemütigung.
Glaube ist Tugend – Zweifel, sprich
Denken, ist Sünde. Gilt doch seit Urzeiten als Erbsünde des Menschen, vom Baum
der Erkenntnis essen und selbst wissen zu wollen, was »gut« und was »böse« ist.
Dieses Wissen war bislang nur dem Gott vorbehalten.
Hinter der
Neugier und dem Ungehorsam der wissen wollenden Menschenkinder schimmert
Aufmüpfigkeit, der Drang nach Mündigkeit durch. Der Mythos vom Sündenfall
beschreibt das Erwachen des menschlichen Bewusstseins als einen zwiespältigen
Vorgang, analog dem individuellen Drama des Erwachsenwerdens: ein befreiender,
aber schmerzlicher Prozess, gleichbedeutend mit der Vertreibung aus dem
Kindheitsparadies des Glaubens und der Geborgenheit. Für den, der es verlässt,
ist nichts mehr selbstverständlich. Es gibt keinen Gott Vater mehr, der alles
für ihn weiß, und keine Mutter Natur, die ihn ernährt. Im »Schweiße seines
Angesichts« muß er, auf sich gestellt, sein Leben
meistern, Verantwortung tragen.
Erwachsenwerden,
das bedeutet: Glaubensungewissheiten
durch Erfahrungs- und Erkenntnisgewissheiten
ersetzen, das ehemals Geglaubte Stück um Stück verifizieren. Etwas
Entscheidendes hat sich geändert: Der Erwachsene kann, das Kind muss
glauben. Hat es doch weder einen ausreichenden Fundus von Erfahrungen noch ein
geübtes kritisches Instrument, um sich ein Bild von der Welt zu machen.
Rudimentäre Instinkte, unreflektierte »dumpfe« Lust- und Unlustgefühle sind
seine inneren Wegweiser.
Kindlicher
Glaube ist ein einziges Vor-Urteil, gemixt aus diffusen Ängsten und Wünschen,
aus Unwissenheit und naivem Vertrauen; ein Provisorium, das offen sein sollte
für Revisionen und Korrekturen.
Doch
welche Autorität sieht das gerne? Das provoziert den Gott, die Mächtigen, die
Eltern. Das Drama des Erwachsenwerdens auf der einen ist die Tragödie der
Entmachtung auf der anderen Seite. Privilegien stehen auf dem Spiel.
Privilegien machen satt. Wer sie genießt, sieht kaum einen Grund, sich
zurückzunehmen. Er wird das nach Selbständigkeit strebende Denken seiner
Untergebenen verbieten oder mit allen Mitteln zu verhindern suchen.
»Wenn ihr
nicht werdet wie die Kinder ...« – lautet die Predigt. Mit verlogen-sentimentalem
Pathos beschwören sie die »Unschuld« der Kindheit, das »Paradies« des naiven, unbewussten
Lebens. Sie preisen die kindlichen »Tugenden« – Einfalt, Anhänglichkeit und
träumerische Phantasie –, auf dass ihre Kinder nicht
den Aufbruch wagen aus der Bevormundung in Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
Vom
infantilen Zögern, aus der Geborgenheit des kindlichen Glaubens in die
ungeschützte Erwachsenenwelt des erkennenden Denkens einzutreten, und von der
damit verbundenen mythischen Bestrafungsangst hat sich die Menschheit noch
nicht befreit. Und solange die kulturellen Leitideen dieser Menschheit auf
einem infantilen Denk-, sprich Glaubensmuster, gründen, gilt weiterhin:
»Glauben ist Tugend – Denken ist Sünde!«