Abenteuer
»Wirklichkeit«
Energetisch zersplittert bis
ausgepumpt, fasziniert von der Oberfläche, süchtig nach Animation, vom Beispiel
der Philosophen abgeschreckt, reichlich bedient mit Angeboten – von der
opulenten Antwort, die letzten Sinnfragen betreffend, bis zur praktischen
Anweisung des Ratgebers – verfangen im Glauben, umnebelt vom süßen Duft der
Illusion – eigentlich spricht alles dagegen. Gegen das Denken, meine ich.
Warum
sollten wir uns auf ein Abenteuer mit höchst ungewissem Ausgang einlassen?
Genau genommen gibt es ja für uns Menschen nur zwei Abenteuer: zu leben, d.h.,
sich auf das Leben in all seiner Vielfalt einzulassen, und dann, dieses Leben
begreifen zu wollen.
Für jeden
Abenteurer stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Risiko und Gewinn: Was
steht auf dem Spiel, welchen Gewinn darf ich erwarten? Wenn ich mich auf die
Unendlichkeit der Meere hinausbegebe, werde ich neues Land entdecken? Wenn ich
den heiligen Berg besteige, werden mich die Götter strafen? Neugier und Angst
liegen im Widerstreit.
Warum die
Sicherheit des Gewohnten verlassen und ungewisses Neues wagen? Wer seinen
Status quo aus frohgemuter Überzeugung bedingungslos verteidigen möchte oder
aus unüberwindlicher Furcht dies tun muß, für den
gibt es keinen zwingenden Grund, das bisher Geglaubte in Frage zu stellen. Der
Versuchung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird er ohne große Nöte
widerstehen.
Die
anderen, die das Gefühl haben, die Dinge seien noch nicht zu Ende gedacht,
menschliches Denken und Bewußtsein seien noch nicht
wirklich emanzipiert, frei von kindlichen Fehldeutungen und Illusionen – diese
anderen mag zweierlei dazu veranlassen, das mythische Denkverbot zu mißachten.
Zum einen
dürfte es die elementare Lust sein, diese Welt auch geistig zu erobern, sich
ihrer und sich selbst bewußt zu werden. Das muß, wie noch zu beweisen sein wird, nicht zwangsläufig in
diktatorischen Machtanspruch ausarten. Es schließt, im Gegenteil, ein Stück
Selbstunterwerfung, so etwas wie »aufgeklärte Demut« ein.
Zum anderen
dürfte es eine ebenso elementare Not sein, die zum Nachdenken motiviert: die
Not an den unvermeidlichen Härten und Widersprüchen des Seins – und Not an der
vermeidbar erscheinenden fragwürdigen Situation, in die sich die Menschheit,
und oft genug das eigene Ich, hineinmanövriert hat.
Was darf
das Denken erwarten? Hat es etwas dem Glauben Ebenbürtiges anzubieten? Statt
pompöser Heilserwartungen, die ebenso gefährlich wie trostreich sind, könnte
sich ein Wissen von der Welt bilden, das zwar bescheidener als jene Glaubensgewißheiten ist, dafür aber besser trägt. Es könnte
helfen, den unseligen Wiederholungszwang innerhalb der Geschichte zu brechen
und die sich anbahnenden Katastrophen zu vermeiden. Das wäre der Gewinn. Und
was steht auf dem Spiel?
Gleich zwei
Weltbilder geraten unter Beschuß: das
christlich-transzendentale und das nachchristlich-säkulare, das viele Namen
hat. Ein Zweifrontenkrieg also?
Im ersten
Augenblick sieht es so aus. Doch bei genauerem Hinschauen wird man den Verdacht
nicht los, daß die beiden sich wie Feuer und Eis
bekämpfenden Weltbilder gar nicht so konträr sind, wie sie sich geben. Haben
sie womöglich einen gemeinsamen Nenner? War die Säkularisierung tatsächlich der
Beginn einer »Neuzeit« oder nur Fortdauer des überkommenen Weltbildes unter
umgekehrtem Vorzeichen? Die Metamorphose eines alten, zäh sich behauptenden Bewußtseinsmusters?
Eines
scheint sicher: Beide Weltbilder haben versagt und die Menschheit in eine
bedrohliche Sackgasse geführt. Bei der Suche nach Lösungen läßt
sich unschwer erahnen, daß es nicht mehr nur um feine
Korrekturen geht, sondern um Grundsätzlicheres, um eine Art Zäsur. Zäsuren sind
befreiend und schmerzhaft zugleich. Für manchen Grund genug, sie so lange wie
möglich hinauszuschieben.
Und noch
etwas scheint gewiß. Weltbilder sind keine festen,
statischen Größen. Wer ein Gespür für die Entwicklung und Veränderung der
Wirklichkeit hat, wird diese ebenso irritierende wie motivierende Tatsache
akzeptieren. Das Sein verändert sich, und
mit ihm die Auffassung vom Sein. Jedes Alter, ob Zeit- oder Lebensalter,
hat sein spezifisches Bild von der Welt.
Die
Beschäftigung mit den globalen Themen könnte den Verdacht nahelegen,
das Denken betreibe ein Ablenkungsmanöver und befände sich auf der Flucht vor
der Problematik des individuellen, eigenen Ichs. Dieser durchaus berechtigte
Verdacht wird sich als hinfällig erweisen. Jeder kompromißlos
Denkende macht über kurz oder lang die Erfahrung, daß
Ich und Welt nicht voneinander trennbar sind. Das Ich ist Ausschnitt und
Spiegelbild der Wirklichkeit. Beider Probleme korrespondieren miteinander.
Ob das
Denken beim eigenen Ich oder bei der Wirklichkeit, die es umgibt, ansetzt,
spielt keine Rolle. Die Ergebnisse sind die gleichen. Es wird also in unseren
Überlegungen weder »nur« um die Menschheit und den Planeten Erde, noch »nur« um
die ganz privaten Bedürfnisse und Nöte des Individuums gehen.
Wenn es eine einfache Formel gäbe –
Mathematiker und Physiker träumen von solchen Weltenformeln –, die dieses
verwirrend komplexe Sein erklärt, anwendbar für den Makro- und den Mikrokosmos,
für das Universum und das Individuum! Eine keineswegs gewagte Vorstellung. Denn
daß die ganze Vielfalt der Wirklichkeit aus dem
gleichen Stoff ist und den gleichen Gesetzen gehorcht, dürfte außer Zweifel
stehen.
Das würde
die Faszination dieser Formel ausmachen, daß kein
Aspekt des Seins »draußen« bleiben müßte. Jedermann
könnte sich an ihr verlustieren: der global bis kosmisch orientierte
Universalist und der ichzentrierte Individualist; der
abstraktionssüchtige Theoretiker und der konkretisierungsbesessene
Pragmatiker.
Es dürfte
ein Interpretationsmodell sein, das dem menschlichen Bewußtsein
bisher verschlossen war oder, wenn schon bekannt, nicht wirklich realisiert,
d.h. bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt und existentiell »assimiliert«
wurde; ein Modell, vor dessen Hintergrund die klassischen Heilsutopien als
infantile Illusionen, als sinnlos und zerstörerisch entlarvt würden.
Das Ziel
unserer Unternehmung kann nur in die eine
Richtung, vom Glauben zum Verstehen weisen. Statt spekulativer Umdeutung und
utopischen Neuentwurfs der Welt – was die Welt »eigentlich« sei und wie sie »idealerweise« sein sollte – wird sich unser Denken
vorbehaltlos an der Wirklichkeit orientieren und den Versuch unternehmen, den
Sinn auch des scheinbar Sinnlosen zu
finden. Alles andere wäre lächerlich und pure
Anmaßung. Das Sein hat es ohnehin nicht nötig, sich gegen die Vorwürfe von
Utopisten zu verteidigen. Wenn es so ist, wie es ist, muß
es seine Logik, seine Berechtigung haben. Wenn es nicht verstanden wird, dann
liegt es nicht an ihm, sondern am Betrachter. Der Denkende muß sich unterwerfen, nicht das
Sein!
Es kann
nicht unsere Aufgabe sein, die Welt – ihre Struktur und Dynamik – nach unserem
Gutdünken zu verändern und eine Gegenwelt zu entwerfen, die unseren Wünschen
entspricht. Das wäre arrogant und seinsverachtend.
Vielleicht
ist Denken nur der Versuch, diese Wirklichkeit – erkennend – zu lieben, sich
mit ihr zu versöhnen. Versöhnung statt Erlösung. Das unterscheidet das Glauben
vom Denken: Der Glaubende hofft auf Erlösung in einer utopischen »anderen«
Welt; der Denkende versucht, ins Einverständnis mit der gegebenen Welt zu
kommen, indem er sie versteht.
Begreifen
und Annehmen, Erkennen und Lieben liegen bekanntlich nahe beieinander. Daß die prinzipielle
Akzeptanz der ganzen Wirklichkeit den
aktuellen Widerstand in der
konkreten, einzelnen Situation nicht
ausschließt, wird noch zu zeigen sein.
Sich ins
Unabänderliche fügen – nicht glaubend, sondern wissend – und das Veränderbare
verändern, innerhalb der Grenzen des Möglichen: diese Gratwanderung zwischen
Toleranz und Widerstand, zwischen Gelassenheit und Engagement ist nicht
untypisch für die Weltenformel, die es zu entdecken gilt. Sie wird alles andere
als einfache Lösungen anbieten.
Anstatt uns auf die Offenbarungen der
Gottgesandten oder auf die Vordenker diverser Ideologien zu verlassen, werden
wir uns selbst auf die Suche begeben. Ich behaupte: »Denken ist Offenbarung!« Vorurteile als
Ballast abwerfend, neugierig und ohne Angst vor den möglichen Konsequenzen
werden wir von vorn, beim Punkt Null beginnen.
Die
Analyse des sogenannten Prinzipiellen – der »allem
gemeinen« Struktur und Dynamik des Seins –, ihre Anwendung auf das konkret
Vorhandene und der perspektivische Entwurf eines zukünftig Möglichen – kurz
gesagt: das Wie, das Was und das Woher-Wohin – soll
unser Thema sein.
Das Warum
und Wozu wird uns an Grenzen stoßen lassen. Auf die ganz große Sinnfrage – warum denn dieses Weltenspiel überhaupt stattfindet – werden wir in
weiser Bescheidenheit verzichten. Wer mit Beharrlichkeit nach den »letzten
Gründen« fragt – warum denn dieses Sein existiere – und es als Werk eines
Schöpfergottes definiert, muß sich konsequenterweise
die Frage gefallen lassen, warum denn
jener Schöpfergott überhaupt
existiert. Offensichtlich erweisen sich die »letzten Gründe« bei genauerer
Betrachtung als Abgründe.
Wir werden
uns also mit den »vorletzten« Seinsgründen begnügen. Sinn werden wir nicht unendlich, sondern nur endlich –
kausal-final, nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip –
definieren. Leben und die Erwartungen von Leben sind sinnvoll, wenn sie wie ein
Schlüssel in das Schloß Wirklichkeit passen. Sinn
ergibt sich nicht aus unendlich weit entfernten letzten Ursachen und Zielen,
sondern aus dem Zusammenspiel des Vorhandenen, aus den aktuellen Beziehungen –
als Sinnbezüge. Banal ausgedrückt:
Angebot und Nachfrage müssen übereinstimmen, damit Leben einen Sinn erhält.
Unverbesserlich
Spekulative mit dem Drang, die Sinnfrage bis zum letzten Bezugspunkt
auszuweiten, mögen das Schloß suchen in das diese
ganze – oder eben nicht ganze –
Wirklichkeit hineinpaßt, von den Religionen »Gott«,
von den Philosophen traditionell »Logos« genannt. Aber sie sollten gewarnt
sein, die Damen und Herren Sinnextremisten! Wenn sie vorurteilslos von dem
Schlüssel Schöpfung auf das Schloß Schöpfergott
schließen, werden sie zu Schlüssen kommen, die gewiß
nicht fromm, eher ketzerisch klingen.
Der gute
Gott der Christen und der Logos der Philosophen als allgewaltiges Urprinzip des
Seins geraten vor dem Denken in arge Bedrängnis. Beide passen nicht so recht zu
diesem Sein. Beide Interpretationsmodelle kommen ohne die berühmte rosarote
Brille nicht aus.
Kein
Wunder, daß das herkömmliche, von illusionären Wünschen
diktierte, sprich verzerrte Denken
sowohl in Inhalt als auch Methode unter der elitären Abwertung und Verdrängung
gewisser »unwürdiger« Teilaspekte des Seins leidet. Im Grunde diskreditiert es
das Sein, wie es ist, und spielt sich heimlich als dessen Richter auf.
Ausgehend
von der Hypothese, daß alles, was ist, seine
Berechtigung hat, braucht unser Denken nichts auszuklammern. Und weil wir uns
dem ganzen Sein öffnen, können wir es
uns auch erlauben, mit dem ganzen
Menschen zu denken, mit Verstand, Gefühl, Instinkt und Körper. Aus
intellektuellem Höhenflug werden wir in die sinnliche Wahrnehmung eintauchen,
aus kritischer Distanz in die unreflektierte Nähe zurückkehren. Tiefe und Oberfläche, Sein und Schein, Wirklichkeit und Möglichkeit – nur indem wir uns auf
das ganze Spektrum der Welt einlassen, werden wir sie, oder etwas von ihr,
begreifen.