Zweiter
Teil
Metastruktur – oder – Das Oszillieren des Seins
Ich
oder Welt?
Angenommen, du hättest dich
entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ein bemerkenswerter, ein
heroischer Entschluss! Entstanden aus elementarer Lust: dein Verstand hat die
Geschlechtsreife erlangt und fühlt sich von den Geheimnissen des Seins
gleichsam erotisch angezogen. Oder aus Notwendigkeit: es knirscht zuviel Sand
im Getriebe; du hast es satt, in monströsen Kulissen umherzuirren, ohne Ahnung
von dem Stück, das aufgeführt wird, und von der Rolle, die du spielst.
Vielleicht hast du von den Bitternissen des Lebens gekostet, und die berühmte
Frage nach dem Sinn drängt sich auf. Du willst nicht mehr gegängelt,
narkotisiert in der Kolonne marschieren, im Zug der Lemminge. Skeptisch
gegenüber dem Angebot an Heilsbotschaften, traust du es dir zu, eigene Antworten auf eigene Fragen zu finden.
Stellt
sich das Problem: Womit das Abenteuer beginnen? Wem zuerst die Aufmerksamkeit
widmen: dem eigenen Ich oder dem Rest der Welt?
Das Ich
wäre das fraglos faszinierendere Objekt des Denkens. An seinem Ich wird man
trotz aller frustrierenden Erfahrungen kaum jemals das Interesse verlieren. Es
ist das Objekt einer nie endenden Liebe. Andererseits ist das Ich eine Mimose.
Kommt man ihm zu nahe, rollt es sich ein, verschreckt und unnahbar. Weht ihm
ein kalter Windhauch ins Gesicht, sogleich ist es verschnupft.
Nicht ohne
Grund begann der forschende Geist des Menschen bei den entferntesten
Objekten, bei Sternen und Planeten. Nur zögernd tastete er sich über Physik,
Chemie und Biologie in Richtung Mensch. Verständlich, dass ein Freud und seine
Psychoanalyse zunächst heftig attackiert wurde. Hatte
er es doch in tabubrechender Weise gewagt, in die
Tiefen des menschlichen Ichs hinabzusteigen und wohlgehütete Geheimnisse, dem Ich selbst unbekannt, ans
Tageslicht zu zerren.
Je näher
man dem Thema Mensch kommt, desto prekärer wird die Situation. Das sollte nicht
wundern. Zum einen ist der Mensch das komplexeste und komplizierteste
Produkt der Evolution – »Zwischensumme« an ihrem vorläufigen Ende. In ihm sind
alle Problemstellungen der Kosmologie genetisch gespeichert. Zum anderen steckt
er mitsamt seiner Kultur in einer ziemlich verworrenen, heillosen Situation.
Das hat der anfänglichen Begeisterung über sich selbst gewaltigen Abbruch
getan.
Kultur hat
ihren Glanz verloren; Skepsis und Pessimismus machen sich breit. Natur dagegen liegt im Trend der Zeit.
Das war nicht immer so. Damals in den Anfängen der Kultur erschien die Natur
dem Menschen unheimlich, beherrscht von Göttern, Geistern und Dämonen. Als er
sich endlich von mythischer Weltdeutung befreit, die Götter entthront und sich
sein eigenes Gesetz diktiert hatte, geriet er neuerlich in eine Sackgasse.
Respektlos,
unbekümmert und voll Elan bemächtigte er sich der Natur. Nun, da sie zerschunden vor ihm liegt und die endgültige Zerstörung des
Planeten Erde keine reine Science-fiction-Utopie mehr
ist, kommen ihm Zweifel. Aufgebläht mit Wissen, technologisch weit in die
Zukunft katapultiert, steht er doch ziemlich ratlos vor den Folgen seines Tuns. Das in seiner Selbsteinschätzung angeknackste
menschliche Bewusstsein sucht nach einer neuen, über jeden Zweifel erhabenen
Autorität.
Wieder
einmal wendet Homo sapiens ernüchtert und reumütig seinen Blick zurück in jene
als »paradiesisch« gepriesene Vergangenheit vor
aller Kultur. Wieder einmal entdeckt er in einer Anwandlung nostalgischer
Rückerinnerung die Natur als Idol und – als gütige Urmutter. An Matriarchat
herrscht ohnehin Nachholbedarf.
Anders als
jener patriarchalisch strenge Gott der Christen in seiner transzendentalen
Abgeschiedenheit ist Mutter Natur so herrlich weiblich, sinnlich erfahrbar,
ausgestattet mit allen Tugenden, die man dem »Weibe« zuspricht. Sanft sei sie,
einfühlsam und bewahrend; passiv, duldsam und leidend – abhold jeglichem
Pascha-, Herrschafts- und Macherwahn; uns ausgeliefert und doch mächtiger als
wir; zum Anschauen und Anfassen und doch voll unergründlicher Geheimnisse.
Die große
Göttin Gaia – Frau und Mutter zugleich – liegt vor dir
mit erwartungsvoll gespreizten Schenkeln. Nicht, dass du in männlich
chauvinistischer Manier mit lüstern frechem Penis in sie eindringst, sie
eroberst und dir untertan machst. Nein, als Kind darfst du zurückkehren in den
mütterlichen Schoß: mystische Vereinigung – halb kindlich, halb erotisch –,
Heimkehr des Ausgestoßenen in pränatale Geborgenheit. Die Nabelschnur ist nicht
mehr durchgeschnitten. Das Ich, die Last der Individuation abstreifend, darf
sich einbetten in ein großes, allumfassendes Ganzes. Die banale Alltäglichkeit
hinter sich lassend, taucht es ein in eine Dimension von wahrhaft kosmischen
Ausmaßen. Es partizipiert an der ewigen Wiedergeburt der Natur.
Erlösung
einmal anders: befreit von der düsteren Magie des Blutopfers; reduziert auf die
einfache Formel: »Lebe im Einklang mit der Natur, und alles wird gut sein!«
Wie immer
man zur neuen Naturmystik steht – ob man die Natur als abstraktes Urprinzip
oder, personifiziert, als mütterliche Nachfolgegottheit jenes unpopulär
gewordenen Vatergottes betrachtet –, eines ist sicher: Natur hat etwas Unbezweifelbares. Sie abzulehnen oder sich ihr zu
widersetzen wäre sinnlos, muß Scheitern zur Folge
haben. Die Natur entdecken – ihre Struktur, Dynamik und Gesetze – bringt uns
einen gewaltigen Schritt weiter bei dem Versuch, uns eine »Anschauung von der
Welt« zu bilden.
Springen
wir also ruhig auf den Zug der Zeit. Widmen wir unsere ganze denkerische Kraft,
analytische und interpretatorische, der Natur. Attraktiver als jenes
Philosophenphantom »Sein« ist sie allemal.