Metamorphosen des Absoluten

 

Nachdem der Mensch das Absolute, verkörpert in dem einen und einzigen transzendentalen Gott des Monotheismus, säkularisiert, d.h. für sich selbst vereinnahmt hatte, tauchte es an den verschiedensten Orten und in immer neuen Verwandlungen auf. Es wurde zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt des monistischen Intermezzos.

Zwei Hauptströmungen lassen sich innerhalb der Metamorphosen des Absoluten unterscheiden. Zum einen tritt es, gleichsam im Großformat, als komplettes System auf, mit einem Versatzgott an der Spitze und mit möglichst universalem Anspruch. Klassische Beispiele dafür sind die Weltmachtträume der diversen Monarchen und Volksführer, die ihren privaten Größenwahn unter allerlei ideologischen Mäntelchen kaschierten oder ganz unverbrämt auf ihr Volk übertrugen. Nicht anders die Statthalter der großen Religionen. Auch sie versuchten, den ihnen und ihrer Heilslehre vermeintlich gemäßen Status der Weltherrschaft durch Missionierung der Andersgläubigen, notfalls mit brutaler Gewalt, zu erringen. Nach dem Niedergang der politischen und religiösen Globalutopien sind die Wirtschaftsideologien die derzeit aktuellen Varianten des in ein System verwandelten Absoluten. »Weltreligion«, »Weltmacht«, »Weltmarkt« – wo die Vorsilbe »Welt-« auftaucht, darf man getrost Absolutheitsansprüche der monströsen Art vermuten.

Zum anderen wandte sich das monistische Denken auf der Suche nach neuen Identifikationsmöglichkeiten vom universalen Ganzen ab und konzentrierte sich auf einzelne Teilaspekte des Seins. Es diffundierte gewissermaßen in eine Unzahl von Ismen. Diese verkörpern das Absolute und dessen methodische Konsequenz, das Verabsolutieren, »im Kleinformat«. Statt des universalen betreiben sie einen partikulären Absolutismus.

In der Tat, jeder Aspekt des Seins kann zum Kristallisationskern eines Ismus werden. Nichts hat die Geschichte des monistischen Intermezzos ausgelassen, keine Facette des Menschlichen. Verstand, Gefühl und Wille wurden nacheinander, analog den Schwerpunkten der individuellen Entwicklung, zur kulturellen Leitidee gekürt und »epochal ausgereizt«.

Der Rationalismus der Aufklärung war der Triumph des Verstandes über die irrationale Vorstellungswelt des Mythos. Nach der kindlichen Phase des Glaubens feierte man emphatisch den Kult des Wissens und war doch selbst noch dem naiven Glauben an die Allmacht der Vernunft verhaftet. Der Emotionalismus der Romantik betrieb die antithetische Flucht aus der Kühle des Verstandes in die heimeligen, aber auch unheimlichen Gefilde der Gefühle: regressives Abtauchen des Bewusstseins ins Meer des Unbewussten, Abkehr vom Hochmut des Wissens und Hinwendung zu hymnischer Begeisterung über das Wunderbare und Geheimnisvolle.

Der Voluntarismus der Moderne schließlich glorifizierte den Willen eines sich emanzipierenden Ichs zur Selbstverwirklichung. Das Zeitalter des Willens musste zwangsläufig in das technologische Zeitalter des Wissens, Könnens und Machens münden. Wir dürften uns noch mitten in dieser Epoche befinden, wenngleich der ehrgeizige Wille zur Macht und zum Machen einiges von seinem ursprünglichen Glanz verloren hat.

Selbst die Philosophen konnten der Versuchung zum infantil‑monistischen Denken nicht widerstehen. Getreulich dem Zeitgeist hinterher hechelnd – bei ihnen weiß man nie, ob sie nun Vor- oder Nachdenker ihrer Zeit sind –, priesen sie abwechselnd Vernunft, Gefühl und Willen als weltenerschaffendes und weltenbewegendes »Urprinzip«. Seit jeher waren sie fasziniert von der Suche nach dem alles bewegenden Einen. Mal verkündeten sie den Primat des Geistes, mal den der Materie; mal sahen sie in den Ideen, mal in den unbewussten Triebkräften das Wesen aller Wirklichkeit.

Nicht nur die Ontologie, die »Seinslehre« – auch die Erkenntnistheorie wandelte auf monistischen Pfaden. Philosophische Erkenntnis musste, wenn sie denn »wahre« Erkenntnis sein wollte, auf einem bestimmenden Prinzip gründen. Den einen schien sie dem Bewusstsein »apriorisch« vorgegeben; nach Meinung der anderen durfte sie sich ausschließlich auf empirische Erfahrung stützen.

Einbrüche in emotionale Untiefen erlaubten sich die Philosophen kaum. Wenn es denn doch geschah, in Zeiten außergewöhnlicher historischer Erschütterung und Bedrohung, zelebrierten sie das eine Gefühl – Verzweiflung, Ekel, Angst, Geworfenheit – als die »Urbefindlichkeit« menschlicher Existenz. Oder sie predigten, der Paradiesutopie und einem vitalen Überlebenswillen folgend, das Prinzip Hoffnung als den Schlüssel zum Sein, als den Stein der Weisen.

Im Wörterbuch der Monisten tauchen mit schöner Regelmäßigkeit die Begriffe »Ur-« und »Grundprinzip« auf. Unverdrossen wird nach dem »Eigentlichen« und »Wesentlichen« geforscht. Mit wahrhaft rührender Naivität postuliert man den »Primat« des einen über das andere. Und natürlich darf das Wörtchen »rein« nicht fehlen. Der reine Geist, die reine Vernunft, das reine Bewusstsein, das reine Erkennen, die reine Lehre: was nicht »rein« ist, kann nicht gut oder richtig sein. Monistischen Purismus könnte man diesen Zwang zur Reinheit nennen. Er ist das unverzichtbare Begleitphänomen des Absoluten.

Parallel zur Geschichte der politischen und weltanschaulichen epochalen Verabsolutierungen ließen sich die eher ästhetisch begründeten Ismen der Kunstgeschichte anführen: Realismus, Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus... – um nur einige wenige zu nennen. Auch hier das gleiche Spiel. Die Künstler einer bestimmten Zeitperiode oder exzentrische Individualisten unter ihnen konzentrieren sich auf einen ästhetischen Aspekt, um ihn auf Kosten der anderen programmatisch, manchmal bis zum »Geht-nicht-mehr« auszureizen.

Im klassisch-monistischen Kunstverständnis ist dies die einzige Möglichkeit für den Künstler, sich seinen spezifischen Ausdruck zu schaffen und sich gegenüber anderen Künstlern und Epochen abzugrenzen. Persönlichkeit und Stil verlangen, so glaubt man, ein hohes Maß an Eindeutigkeit.

Die ästhetischen Ismen könnte man wie alle modischen Trends als legitimes, relativ harmloses Spiel interpretieren, als kreative Identitätssuche einer jeweils neuen, anderen Zeit. Wer möchte schon Abklatsch, bloßer Neuaufguss des schon Vorhandenen sein? Dennoch, es ist ein Unterschied zwischen kreativer Variation und Ismus. Kreativität ist immer offen für das andere, lässt sich schon mal, zumindest versuchsweise, mit dem Gegenpol ein. Ismen dagegen schotten sich ab. Sie tragen den Keim der Selbstverabsolutierung in sich.

Am unteren Ende der Skala von den universalen bis zu den partikulären »Mon-Ismen« steht der Spezialist, der sich einer Sache, einem Thema verschrieben hat. Unter den Metamorphosen des Absoluten dürfte er die am meisten verbreitete Variante sein. An ihm werden Faszination und Problematik monistischen Denkens überdeutlich sichtbar.

Auf der einen Seite ist Leben »Entscheidung«, eine permanente Abfolge von »temporären Monismen«. Man kann immer nur das eine oder das andere tun bzw. sein. Wer alles sein will, ist nichts. Wer etwas gut machen will, muss sich auf Teilbereiche beschränken, seine Energien konzentrieren können. Auf dieser Tatsache beruhen die Evolutionsprinzipien Differenzierung und Optimierung. Die ungeschiedene Urenergie musste sich »entscheiden«, um Qualitäten, Strukturen, Organismen zu bilden. Je komplexer sich das Ganze gestaltete, desto spezifischer wurde die Funktion des Einzelnen.

Die Entscheidung des Spezialisten ist also durchaus berechtigt. Fragwürdig wird sie erst, wenn sie mit fanatischer Ausschließlichkeit, d.h. Absolutheit getroffen wird. Dann schlägt der ursprünglich positive Prozess der Differenzierung in gefährliche Dissoziation um: Unterschiedliches wird Getrenntes. Das mit puristischer Ausschließlichkeit betriebene Einzelne tendiert dazu, sich aus seinen Beziehungen, aus dem Zusammenhang zu lösen und schließlich die Zusammenhänge gar zu leugnen.

Tatsächlich tönt aus dem bunten Reigen der Spezialisten und Mon-Ismen immer wieder der Ruf nach »Autonomie«. Die Wissenschaft fordert zweckfreie, autonome Forschung: Wissen um des Wissens willen. Die Kunst beansprucht ästhetische und ethische Autonomie, das ungehinderte Umhertollen auf der Spielwiese der Phantasie: l'art pour l'art. Und die Technologen betreiben ihren Fortschritt »autonom«, ohne skrupulöse Rücksichten auf etwaige Folgen ihres Tuns.

»Jeder für sich und keiner für alle!« Dieser heimliche Slogan einer in autonome Individuen und Gruppierungen zersplitterten Gesellschaft sollte den Betrachter nicht wundern. Ist doch die Autonomie die Ureigenschaft des sich selbst genügenden und auf sich selbst bezogenen Absoluten. Dass das Absolute innerhalb des monistischen Intermezzos von der Theo- bzw. Anthropozentrik zur Egozentrik überwechselte und dort seine letzte Heimstatt fand, entbehrt nicht einer gewissen Folgerichtigkeit. Die Egozentrik ist der logische Endpunkt, der gemeinsame Nenner aller Metamorphosen des Absoluten: das Ich als Ausgangs- und Zentrierpunkt von Geschichte, als Drehscheibe der Wirklichkeit.

Hinter all den großen und den kleinen Ismen schimmert denn auch, unschwer zu erkennen, ein sich selbst verabsolutierendes Ich, welches das Eigene für das Eigentliche hält. Und über allem schwebt die Utopie des Absoluten wie einst das Perpetuum mobile über der Physik – faszinierend und unmöglich zugleich.


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