Fünfter
Teil
Meta-Utopie – oder – Das postideologische Zeitalter
Trends
und Ansätze
Ideologien geraten zusehends in
Bedrängnis. Das Absolute samt monistischer
Weltanschauung ist auf breiter Front ins Wanken geraten. Hoffnungsvolle Ansätze
zur Überwindung des alten Bewusstseinsmusters sind in den verschiedensten
Bereichen zu beobachten. Sie tun sich allerdings schwer mit der Integration zu
einer alle Aspekte der Wirklichkeit umfassenden Theorie. Solches wagt kaum
einer mehr im Zeitalter des auseinanderdividierten Spezialistentums.
Kunst und
Ästhetik haben schon lange mit dem Diktat des Absoluten gebrochen. In der
kulturellen Evolution spielen sie häufig die Vorreiterrolle. Da es ja scheinbar
nur um Phantasiegebilde, um Fragen der Form und des Geschmacks geht, gesteht
man ihnen eine relativ ungehemmte Experimentierlust zu. Das war nicht immer so.
Die Abkoppelung von den Zwängen ideologischen Gleichschritts, die zur Autonomie
der Kunst führte, musste gegen den Widerstand der jeweils herrschenden
Institutionen erstritten werden.
Da sich die Kunst mittels spontaner existentieller Resonanz im vorbewussten Bereich relativ leicht ihrer »Wahrheit«
versichern kann, ist sie schneller und ehrlicher als die intellektuellen
Kopfgeburten des Bewusstseins. Ohne schlechtes Gewissen wirft sie ideologischen
Ballast ab. Die klassischen Transzendentalien schön, wahr und gut haben in der
Kunst ausgedient. Man glaubt nicht mehr an den Primat des Idealen, an die
Superlative des Positiven, noch an die Allgemeingültigkeit des sogenannten Normalen. Nach dem Grundsatz: »Alles ist
erlaubt« tendiert die Kunst heute formal und inhaltlich aus dem Zentrum der
Norm an die Peripherie, wo das »andere« – das Exotische, Exzentrische und
Exzessive – angesiedelt ist. Sie entwirft phantastische Gegenwelten zu der –
immer noch – ideologisch glattgebügelten, flurbereinigten, funktionalen
Welt des Durchschnittsbürgers.
Nicht nur,
dass sich dahinter ein grenzenloses Leiden an der Normalität verbirgt. Der
phantasierte Ausweg, der die ästhetische und ethische Norm durchbricht, macht
offenbar, dass die Kunst die Seiten gewechselt hat. Sie liefert keine
moralische Aufrüstung für ideologische Systeme und deren Heilsmythen mehr,
sondern arbeitet, bewusst oder unbewusst, eher an ihrer Zersetzung. Verwandelte
sich der einstige Kollaborateur in einen subversiven Dissidenten?
Auch die
Mode als experimentelle Gebrauchsästhetik hat sich von der Fixierung auf das
Schöne und Vollkommene befreit. Im krassen Widerspruch zu den alten Idealen
entdeckte sie die attraktive Patina des Verwaschenen
und Zerschlissenen, den Reiz des Provisorischen, Kuriosen, Schrillen und Hässlichen.
Die gegenwärtige Lust an kontrastierender Vielfalt und schnellem Wechsel hat
kaum mehr etwas gemein mit der ehemals einheitlichen, statischen »Tracht«
nativer Ästhetik. Und der einfallslosen Uniformität der
Gleichschaltungsideologien ist sie diametral entgegengesetzt.
Unterschiedlichste Individualität und changierende Identität sind, wenn auch
nur äußerlich und zum Schein, erlaubt.
Die Frage
drängt sich auf, ob die saubere Trennung – hier funktionale, monotone Realität,
dort »verrückte«, plurale Scheinwelt – auf Dauer durchzuhalten ist. Färbt nicht
vielleicht doch etwas von den Phantasieprodukten auf die Wirklichkeit ab?
Vorsichtiges Sich-Herantasten, spielerische Gewöhnung
an das verbotene »andere«? Bleibt das künstlerische Experiment, die Abweichung
von der Norm bloßes Surrogat, oder hat es eine protagonistische Funktion? Ist
es Flucht in eine Traumwelt oder Vorarbeit für neue Lebensformen?
Vom
fiktiven zum faktischen Neuland ist es nicht so weit, wie mancher hoffend
glaubt. Phantasie »pur«, ganz ohne Wirkung auf Gesellschaft und Moral, dürfte
fromme Illusion sein. Die Folgen ungezügelter Phantasie bei Künstlern und beim
Publikum machen sich denn auch bemerkbar. Die doktrinären Forderungen
vergreister Autoritäten werden nicht mehr ernst genommen. Rigoros verkündete
Einheitsmoral stößt zusehends auf Gleichgültigkeit und trotzige Verweigerung.
Manches spricht dafür, dass Sexual- und Arbeitsmoral, von den Hütern der
Ideologie argwöhnisch überwacht wie die Jungfrau vom Drachen, das Diktat des
Funktionalismus brechen und ihren öden Geschmack verlieren. Eine plurale, breit
gefächerte Ethik könnte eines Tages selbstverständlich sein.
Dennoch,
die Gefahr zeichnet sich überdeutlich ab, dass Kunst und Ästhetik von der
omnipotenten Ideologie der Gegenwart, vom Markt, vereinnahmt werden und
letztendlich wieder die Rolle des Handlangers spielen; dass die künstlerische
Kreativität aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit in die Exklaven Imagination
und Freizeit abgedrängt wird und zum selbstgenügsamen Ritual auf der Spielwiese
der Phantasie verkommt.
Solange
die Kunst, wie derzeit zu beobachten, als »Erlebnisbeschaffer« nur der
Pseudoanimation und voyeuristischen Ersatzbefriedigung dient, stabilisiert sie
das System, wird zum Mitläufer und Mitgewinner des miesen Spiels. Sie nützt
schamlos vitale Defizite aus und bietet plakativen, aber schalen Ersatz. Und
wenn sie sich selbst gar primär als »Marktprodukt« begreift und sich willfährig
dem Vermarktungsprozess unterwirft, wird sie schwerlich den
Absolutheitsanspruch des Marktes und dessen restriktive Mechanismen
unterlaufen. Der Markt wird es ihr übrigens auch kaum erlauben.
Den vielleicht entscheidenden theoretischen Beitrag zur – möglichen –
Überwindung des monistischen Weltbildes haben die
Naturwissenschaften geleistet. Sie waren es ja, die das Absolute erstmals
entzauberten, indem sie die Absolutheit der physikalischen Größen Raum und Zeit mittels Relativitätstheorie offiziell zu Grabe trugen.
Das
alleine wäre kein Verdienst gewesen. Die Forscher konnten nicht anders, sie
wurden durch ihre Naturbeobachtung dazu gezwungen. Weitaus bemerkenswerter sind
die Grenzüberschreitungen von Naturwissenschaftlern aus den unterschiedlichsten
Disziplinen in Richtung Philosophie. Dahinter deutet sich die Gewissheit an, dass
die Erkenntnisse aus Physik, Chemie und Biologie, aus Mathematik und Informatik
hochprojizierbar sind in »Weltanschauung«. In den Anfängen der Philosophie war
die interdisziplinäre Korrespondenz des Denkens noch eine
Selbstverständlichkeit; zwischenzeitlich jedoch geriet sie in Vergessenheit.
Physik und
Metaphysik sind keine getrennten Welten mehr. Der Monopolanspruch der
Philosophie auf spekulative Weltdeutung ist gebrochen. Man ahnt, dass sich das
System der sauberen Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften –
Spiegelbild der ehemals mit Vehemenz verfochtenen Trennung von Materie und
Geist – nicht mehr aufrechterhalten lässt. Hat es doch, von unheilbaren Spezialisten
ad absurdum zelebriert, in Chaos und Konzeptlosigkeit geführt.
Das
philosophische Weltbild kann nicht auf die zwingenden, bisweilen revolutionären
Erkenntnisse der Naturwissenschaften verzichten. Umgekehrt ist das
naturwissenschaftliche Weltbild kein Weltbild, solange es aus Angst vor
»unwissenschaftlichen«, spekulativen Methoden und »gewagten« Analogieschlüssen
darauf verzichtet, die Querverbindungen der scheinbar unendlich weit entfernten
Themenbereiche aufzuspüren und die isoliert erforschten Teile interdisziplinär
zu einem mehrdimensionalen Ganzen zusammenzufügen.
Die
Integration der gewonnenen Einzelerkenntnisse zu einer universalen Theorie
dürfte trotz der historisch verständlichen Abneigung gegenüber den klassisch-monistischen universalen Welterklärungsmodellen die Herausforderung für die Zukunft
sein. Nicht das universale Denken ist
antiquiert und obsolet, sondern der Spezialist, der sich elitär abschottet und
unter Berührungsängsten leidet. Die Geisteswissenschaften werden sich der
Annäherungsversuche seitens der Naturwissenschaft nicht erwehren können. Und
die Naturwissenschaft wird sich den kühlen Kuss der Geisteswissenschaften
gefallen lassen müssen. Vielleicht werden die beiden in inniger Umarmung doch
noch einen ansehnlichen Sprössling zeugen?
Die das
Unternehmen Weltanschauung wagen, haben neben der traditionell eingefahrenen
Schmalspurmentalität des Spezialisten noch mit Problemen ganz anderer Art zu
kämpfen. Psychologische Barrieren, über Jahrtausende verfestigte Tabuängste
sind zu überwinden. Albert Einstein, der das physikalische Weltbild
revolutionierte, blieb weltanschaulich ein Kind. An den Sturz des Absoluten
wagte er sich nur in der Physik. Fast als hätte er ein schlechtes Gewissen,
betonte er immer wieder seinen Glauben an »etwas Absolutes« – nach der
Beschwörungsformel: »Aber das Absolute gibt es doch!«
Derlei
Inkonsequenz ist bei revolutionären Geistern nicht selten anzutreffen. Man
könnte sie als Folge »infantiler Restangst« deuten. In den Kirchen
beispielsweise gibt es eine Menge Leute, die sich in ihren Auffassungen längst
auf ketzerischem Terrain, weit außerhalb der kirchlichen Lehre befinden und die
dennoch nicht – aus kindlicher Anhänglichkeit oder latenter Bestrafungsangst –
die Abnabelung, den konsequenten letzten Schritt »hinaus« wagen. Die in
sensibler Kindheit einprogrammierte Ehrfurcht
vor dem sogenannten Absoluten lässt sich nicht so
ohne weiteres ablegen. Da zahlt man lieber den Preis einer unseligen inneren
Zerrissenheit zwischen den Forderungen des denkenden Ichs und einer sich als
Inkarnation des Absoluten gebärdenden Institution.
Manch
einer verzichtet im Widerstreit zwischen Neugier und Tabuangst auf die
denkerische Auseinandersetzung und zieht sich auf die scheinbar weniger prekäre
Position des Agnostikers zurück: Denkverzicht kann nicht zu falschen Schlüssen
führen. Wer keine Aussage macht, sollte es mit einer möglichen
höchstrichterlichen Instanz kaum verderben können! Doch was, wenn sich statt eines Gottes die Geschichte rächt?
Trotz aller äußeren und inneren Blockaden,
das Absolute hat an Faszination verloren. Die klassisch-absolutistischen
Systeme samt Dogmen leiden an Auszehrung, am passiven, manchmal auch aktiven
Widerstand der Gläubigen. Gerade in der Politik, wo das Absolute in seiner
vielleicht unheilvollsten Variante – als utopisch verklärter Anspruch auf das
Machtmonopol – herrscht, lässt sich der Trend zur Relativierung der Macht nicht aufhalten. Diktaturen jedweder Art
liegen weltweit in der Agonie oder sind zumindest unter starken Druck geraten.
»Demokratie« und »Pluralismus« heißen die Schlagworte im Kampf gegen totalitäre
Systeme. Die Ablösung der monarchischen durch demokratische Herrschaftsformen
wiederholt sich in der Geschichte mit unabwendbarer Gesetzmäßigkeit.
Die
Begeisterung über die revolutionären Entwicklungen im evident ideologiegeschädigten Osten trübt bisweilen den –
selbstkritischen – Blick auf den Zustand der Konsum-Leistungsgesellschaft
westlicher Prägung. Vor lauter Selbstbeweihräucherung wird hierzulande das ideologische Moment, der latente
Totalitarismus des Marktes, nur zu gern übersehen. Und nicht wenige glauben,
das goldene Zeitalter nach der
Ideologie sei schon angebrochen.