Die
vielen Wahrheiten
Das polare Bewusstsein oder Weltbild
liefert keinen bis ins letzte Detail ausgearbeiteten Lebensentwurf, keine
pauschalen Antworten auf die Fragen des einzelnen. Es beschreibt Struktur und
Dynamik des Seins, steckt das Terrain ab, lotet den Spielraum aus, bestimmt die
polaren Grenzwerte, zwischen denen die Wirklichkeit oszilliert. Es erkundet die
Richtung der Evolution und konturiert vage eine ahnbare,
aber noch offene Zukunft.
Das polare
Weltbild kann man als eine Art Generalschlüssel
zu den vielen verschiedenen Räumen des Seins betrachten. Die Räume werden
zugänglich, ihre analoge Struktur wird erkennbar. Wie sie konkret ausgestattet
oder noch auszustatten sind, das ist Sache des einzelnen und der Geschichte.
Verglichen mit der Welt der Sprache: Die Regeln sind in etwa festgelegt; doch
die Inhalte werden an jedem Ort, zu jedem Zeitpunkt und von jedem einzelnen neu
gesprochen oder geschrieben. Anders ausgedrückt: Mit der Beherrschung der
Sprache allein ist es nicht getan, und auch nicht mit der Aneignung eines
Fundus von Vorgedachtem. Die permanente Veränderung der Wirklichkeit verlangt,
die Antworten jeweils neu zu denken und zu formulieren.
Das polare
Weltbild verzichtet auf absolute – zeitlose oder für alle Zeiten »geoffenbarte«
– Wahrheiten und Sinnantworten, die mit doktrinärem Geltungsanspruch die
Einmaligkeit des Individuums, eingebunden in ein Raum-Zeit-Geflecht,
niederwalzen. Jedes Individuum, jedes gesellschaftliche System und Subsystem
hat seinen eigenen Fingerabdruck, seine Wahrheit, die es selbst suchen muss.
Diese
Suche wird dem einzelnen dank falscher Ehrfurcht vor tradierten Offenbarungen
und wider die Einheitsnormen der herrschenden Ideologien gewiss nicht leicht
gemacht. Dennoch, es sollte lohnen, die Identität, die spezifische »Abmischung«
des eigenen Ichs, herauszufinden und sie gleichsam in einem Diagramm mit
unendlich vielen Koordinatenpaaren, sprich Polaritäten,
darzustellen.
Nüchtern-mathematisch
gesehen, ist Identität die Summe der einprogrammierten Affinitäten des Ichs,
wobei sich diese im Lauf des Lebens, siehe »Theorie der Bitterstoffe«,
innerhalb der polaren Kraftfelder durchaus verlagern können. Die eigenen
Affinitäten und Potentiale aufzuspüren und der jeweiligen Situation
entsprechend in Wirklichkeit umzusetzen, das ist jenes lust- und leidvolle
Geschäft, das man gemeinhin »Leben« nennt.
Variationen
in Geschichte, Sinn und Wahrheit sind erlaubt. Das Sein hat kein Interesse an
identischen Standardmodellen und stupiden Wiederholungen. Es gesteht jedem Lebewesen
– jedem Atom – eine eigene Konfiguration, ein spezifisches räumliches und
zeitliches Umfeld zu. Aus dem Zusammenspiel von genetischem Code und
historischem Umfeld ergibt sich die jedem Individuum eigene, einmalige
Geschichte.
Es gibt so
etwas wie ein Recht auf ein eigenes Gesicht, eine eigene Geschichte. Nicht
umsonst gilt als der klassische Science-Fiction-Alptraum die Vision einer total
nivellierten, »geklonten« Gesellschaft. Der ideologische Drang zur
Gleichschaltung per absolut gesetzter Weltdeutung und
ethischer Norm wurde, zumindest in den totalitären Systemen, als unmenschlich
und unrealistisch entlarvt. Die Erkenntnis setzt sich allmählich durch, dass es
weder die Welt noch den Menschen, das Leben, den Sinn oder die Wahrheit gibt. Jeder muss seine Welt, sein Ich, sein Leben, seinen Sinn und seine Wahrheit selbst entdecken und bestimmen. Nur Ewiggestrige
glauben noch an eine »absolute« endzeitliche Universalbestimmung, an
unterschiedsloses ewiges Glück oder ewige Pein – jenseits von Raum, Zeit und
Geschichte.
Identität
ist dabei, sich von den ideologischen Klammern der Einfalt und Eindeutigkeit zu
befreien. Die relative Homogenität von Lebensstil und Lebensentwurf, die
ehemals in räumlich und zeitlich abgeschlossenen, klar definierten kulturellen
Einheiten herrschte, bricht im Zeitalter der welt- und »zeitweiten«
Kommunikation auseinander. Die Horizonte haben sich ausgedehnt, Identität klebt
nicht mehr punktuell am Hier und Jetzt.
Die vielen
Möglichkeiten von Identität, entstanden aus der physikalisch-chemischen,
biologischen und zuletzt noologischen Differenzierung
von Seinsmaterial und -geschichte ins schier Unendliche, verhöhnen jedes
simplifizierende Konzept. Praktisch macht sich das Umdenken – zumindest
äußerlich – schon bemerkbar. Nach dem jahrhundertelangen
Frustrationsdruck des monistischen Intermezzos
herrscht ein ungeheurer Nachholbedarf an Vielfalt und Vieldeutigkeit. Der Trend
geht gegenwärtig weg von der eindeutig festgelegten, ernsten hin zur
changierenden, spielerischen Identität. Dieses Ich, so ahnt man, hat mehr
Facetten, als ideologische Systeme samt Weltanschauungen erlauben oder
wahrhaben wollen.
Die
»Wahrheit« als Synonym für richtige, d.h. wirklichkeitsgerechte Deutungen und
Entwürfe hat ein bunteres, verwirrend komplexeres, dafür menschenfreundlicheres
Gesicht bekommen. Sie wurde von der Monomanie des Absoluten – von
diktatorischer Gleichmacherei, starrer Unveränderlichkeit und einseitiger
Ausrichtung auf das sogenannte Ideale – befreit.
Offensichtlich befindet sich auch die Wahrheit – für die Jünger des Absoluten
ein unerträglicher Gedanke – in polaren, dynamischen Spannungsfeldern. Aus
jeder Perspektive sieht sie anders aus, und schon im Augenblick ihrer
Konkretisierung verändert sie sich.
Die eine Wahrheit wurde von unendlich vielen abgelöst. Für das Kind gilt eine
andere Wahrheit als für den Erwachsenen, für den Steinzeitmenschen eine
andere als für den Modernen. Die Wüste diktiert eine andere Wahrheit als der
Urwald oder die Metropole. Das »Allgemeingültige« und »Ewige« der Wahrheit
schmilzt bei genauerer Betrachtung auf ein abstraktes Minimum, vielleicht
gerade noch auf das Polaritätsprinzip zusammen.
Die Zeit der homogenen
Glaubensbekenntnisse und Systeme, wenn es sie je gegeben hat, ist vorbei. Homo
sapiens hat sich intra- und interkulturell zu sehr
ausdifferenziert. Die Skala der Identitäten reicht von der durch überstarke,
einseitige Affinität bestimmten Spezialbegabung bis hin zur pluralen,
schillernden Mehrfachidentität. Anstelle der ehemals monochromen epochalen Eindeutigkeit in Ästhetik und Ethik herrscht
nun ein spektraler Farbenrausch,
hervorgerufen durch die vielerlei Brechungen der individuellen und kollektiven
Identitäten. Entscheidungen, gleich welcher Art, werden nicht mehr mit
Ausschließlichkeit getroffen.
Die Postmoderne, das viel gepriesene und
viel geschmähte Kind der neuen Geistesart, scheut nicht die eklektizistische
Kombination von Stilelementen und Denkansätzen aus den unterschiedlichsten
Epochen der Geschichte. Das hat sie in den Ruf des Potpourris und der Beliebigkeit
gebracht.
Natürlich
ist der viel zitierte Pluralismus
keine Erfindung der Neuzeit. Was sich in den Zeiten des monistischen
Intermezzos heimlich – hinter verschlossenen Türen und in der Phantasie – an
praktizierter Pluralität abspielte, lässt sich nur erahnen. Seinen gezähmten
Niederschlag fand es in der Kunst, sozusagen am anderen Ende der Wirklichkeit,
diametral zur jeweils herrschenden ideologischen Doktrin.
Umgekehrt
könnte man der sich pluralistisch gebärdenden Moderne eine erschreckende, wenn
auch raffiniert kaschierte praktische Uniformität nachweisen – die devote
Ausrichtung des Lebens auf die Gesetze eines allseits präsenten Marktes. Für
den manipulierten, mehrfach festgezurrten Konsum- und Leistungsbürger dürfte
der hochgelobte Pluralismus eher illusionärer Schein,
utopische Zauberformel denn reale Wirklichkeit sein.
Es geht
also in unseren Überlegungen weniger um die Analyse des Faktischen als um die
theoretischen Aspekte. Pluralität war und ist immer am Werk. Die Frage ist nur,
wie das menschliche Bewusstsein mit diesem Phänomen, oder besser gesagt, mit
diesem Seinsprinzip umgeht.
Plurale Vielfalt wird, besonders im
ethischen Bereich, von den Verfechtern des Absoluten gewöhnlich mit dem
Abtrudeln in Chaos und Beliebigkeit assoziiert. Wo das »Sittengesetz« oder die
»göttliche Offenbarung« den Absolutheitsanspruch verliert, wo die
Allgemeinverbindlichkeit der ethischen Normen in Frage gestellt wird, droht, so
glaubt man, heilloses Durcheinander, chaotische Anarchie.
Eine
Mechanik des monistisch-ideologischen Denkens ist es
offenbar, in Augenblicken der Bedrängnis und des Zweifels extreme
Gegenpositionen als abschreckende Horrorvision zu entwerfen, auf dass der
Zweifelnde der diabolischen Versuchung zur Korrektur seines Weltbildes
widerstehe. Der eigenen Monotonie setzt man das Potpourri, dem Fanatismus die
Gleichgültigkeit, dem doktrinären Zwang die Beliebigkeit entgegen.
Der Mangel
an Sensibilität für die polare Metastruktur des Seins verhindert bei den
Ideologen zwar nicht die faktische Schizophrenie, dies zu glauben und jenes zu
tun; er blockiert jedoch ihr Denken und lässt es geradezu zwanghaft von dem
einen Ismus zum entgegengesetzten anderen irren. Nicht-»istische«
Modelle liegen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Als einzig mögliche Alternative
zu ihrem eigenen theoretischen Absolutismus können sie sich nur den
Relativismus und dessen artverwandten Ableger, den Subjektivismus, vorstellen.
Zugegeben,
die Befürchtungen der »Absolutisten« sind nicht gänzlich aus der Luft
gegriffen. Die Postmoderne, allergisch gegen jede Art von ideologischer
Simplifizierung, könnte in der Tat der Versuchung erliegen, das Prinzip
Pluralität zu verabsolutieren und das Dogma
des Pluralismus zu verkünden. Paradoxerweise würde sie dann, vermutlich
ungewollt und unbewusst, auf der gleichen Schiene fahren wie der Gegner. Denn
Monismus und Pluralismus sind zwei Varianten des
gleichen Denkungsart. Ismen sind allemal monistische Verabsolutierungen,
gleichgültig ob sie dem Primat des Einen oder dem des Vielen huldigen.
Prägnanterweise
sollten Leute, die sich einem fortgeschrittenen Bewusstsein verpflichtet
fühlen, lieber von »Pluralität« als von »Pluralismus« und gleichfalls lieber
von »Dualität«, oder besser noch, von »Polarität« als von »Dualismus« sprechen,
um nicht wieder in eine ideologische Ecke abgedrängt zu werden.
Beim
aktuellen Streit um Pluralismus und Beliebigkeit geht es im Grunde um den
Urkonflikt Einheit–Vielheit, der innerhalb der Evolution in immer
neuen Variationen ausgetragen wird. Die scheinbar ungeteilte Einheit der
dichten Urmaterie bzw. Urenergie differenziert sich seit ihrer Explosion
permanent aus und schafft Teileinheiten, »Individuen«. Trotz des zentrifugalen
Prozesses brechen diese nicht aus, sondern bleiben innerhalb des räumlich und
zeitlich sich weitenden Systems.
Das System als Synonym für das organisierte
Ganze erlaubt Individualität. Im Gegenzug muss sich das ausdifferenzierte
Einzelne am Ganzen relativieren, um bestehen zu können. Die Differenz wird
durch die Kohärenz, die Differenzierung durch die Koordinierung kompensiert.
Einer der zahllosen Balanceakte des Seins.
Wieder
könnten beide antagonistischen Pole zu Primat und Ismus ideologisiert, d.h.
verabsolutiert werden: hier Holismus – da
Individualismus; hier Monismus – da Pluralismus; hier Objektivismus – da
Subjektivismus; hier das Dogma – dort die Beliebigkeit. Um beide Pole – das
Ganze und das Einzelne – gruppieren sich weitere ihnen zugehörige
Wertvorstellungen. Verlockend für das einfältige Gemüt, »total« die Partei des
einen zu ergreifen.
Doch die
Wahrheit ist nicht einfach, kein in sich ruhender Punkt und keine Gerade, auf eine Richtung festgelegt; eher eine
Kurve, die mit unterschiedlich heftigen Ausschlägen zwischen den konträren
Polen oszilliert. Der Ausschlag weist zur Zeit in
Richtung Subjektivismus und Beliebigkeit. Auf den Dogmatismus eines radikalen Entweder-Oder musste als Gegenpendel –
nach dem Gesetz des alternierenden Extremismus – die Beliebigkeit eines
gleichfalls radikalen Sowohl-als-auch
folgen.
Postmodernistische
Gurus zelebrieren denn auch mit provokativ-snobistischem Gestus die »totale
Relativität« aller ästhetischen und ethischen Kriterien, den Verzicht auf
Kriterien überhaupt. Gedankenspiele von Exzentrikern. Das »Lasst uns spielen
und lasst uns in Ruhe spielen!« eines Lyotard kann sich nur eine emphatisch-narzisstische, in
geschützten Räumen lebende, subventionierte Klientel von Philosophen erlauben,
die sich aus der sozialen Verantwortung ausgeklinkt hat und ihre latenten
Abhängigkeiten dank privilegierter Stellung nicht mehr realisieren kann.
Jedes
System muss sich Gesetze, Werte, Ordnungen, Normen schaffen, die sein
Funktionieren erst ermöglichen. Und das bedeutet Abstriche an der ohnehin
imaginären Autonomie des Individuums. Es stellt sich allerdings die Frage,
wieviel Konformität nötig ist und wieviel Abweichung von der Norm ein System
verträgt oder womöglich sogar braucht.
Die narzisstische
Lust auf »Beliebigkeit total« wird spätestens dann in ihr Gegenteil umschlagen,
wenn sie Dekadenz und Zerfall provoziert. Solches deutet sich vielerorts an und
mobilisiert die reaktionären Gegenkräfte.
Fundamentalismen verschiedenster Machart sind die Antwort auf einen
ideologischen Pluralismus, der das Ego und das Individuum ohne Rücksicht auf
die Interessen des Ganzen verherrlicht und die Vielfalt auf Kosten der Einheit zu einem losen, disparaten
Nebeneinander radikalisiert.
Extreme
spielen sich heimlich in die Hände, schaukeln sich gegenseitig hoch. Wenn die
Wertordnung, die jedes System zu seinem Überleben braucht, durch einen »ätzenden«
Relativismus bis zur Unkenntlichkeit zu zerfließen droht; wenn die eigene
Identität beim Zusammenprall mit fremdartigen Identitäten in Frage gestellt
wird, liegt es für das naive Denken nahe, sich in die scheinbare Sicherheit
»fundamentaler«, dogmatisch betonierter Wahrheiten zu flüchten – auch um den
Preis der Selbstaufgabe, die nur zu oft von den Führern des Fundamentalismus
gefordert wird. Für das verunsicherte, schwache Ich ist Selbstunterwerfung kein
Verlust, sondern Gewinn. Indem es sich mit dem wie auch immer definierten
Absoluten verbündet – mit dem Gott, der Nation oder der Ideologie –, nimmt es
teil an dessen Unbezweifelbarkeit, Glanz und Größe.
Wachsweiche,
subjektive Beliebigkeit oder rigorose, objektiv begründete Doktrin? Eine
sinnlose, wahrhaft obsolete Alternative. Derlei extreme Positionen können sich
vielleicht noch einzelne Exzentriker leisten – auch dafür gibt es »natürliche
Nischen«, das Sein ist nicht kategorisch auf der Seite des goldenen
Mittelmaßes, apodiktisch gegen alle Extreme und Exzesse. Doch das systemische, d.h. auf das Überleben von
Systemen ausgerichtete Denken sollte allmählich auf den fragwürdigen Luxus des
Extremismus verzichten. Diese Art ideologischer Monstrosität kann sich die
Menschheit, die auf ein geopolitisches
Gesellschaftssystem zusteuert, nicht mehr erlauben.
Absolutheit und Relativität
sind – das zeigt sich gerade beim
Diskurs über die »Wahrheit« – ein klassisches Beispiel für das
Polaritätsprinzip und dessen Gesetze. Beide Begriffe bezeichnen unerreichbare
Grenzwerte. Es gibt kein »reines« Absolutes, Unbedingtes, von allem
Losgelöstes. Die entferntesten Sterne im Universum
üben auf jeden Punkt dieses Universums eine Kraft aus, sie schaffen Beziehung.
Sogar das personifizierte Absolute, der Gott der monotheistischen Religionen,
ist dem Mythos gemäß in eine Beziehung zu seiner Schöpfung verstrickt.
Und es
gibt keine »reine« Beziehung. In jeder Beziehung steckt ein Stück
Unabhängigkeit, ein Hauch Unbedingtheit. Es ist wie mit der Sprache: Jedes Wort
hat, auch wenn es erst im Satzzusammenhang seinen Sinn bekommt, einen gewissen
Eigenwert. Es gibt kein reines Wort und keinen reinen Satz. Analogie in der
Physik: Die Bausteine des Seins sind weder reines Teilchen noch reine Welle,
weder reine Materie noch reine Energie. Die beiden antinomischen
Zustände im subatomaren Bereich – Teilchen und Welle – könnte man als Symbole
für die Grenzwerte absolut und relativ nehmen.
Die
Sprache, und mit ihr das menschliche Bewusstsein, vollzieht diese faktische
Unsauberkeit, die paradoxe Vermengung des eigentlich Unvereinbaren,
andeutungsweise nach. Sie nimmt den Begriff »absolut« nicht wirklich absolut.
Andernfalls könnte sie ihn nicht gleichsam steigern zu »absolutistisch«. Das
Absolute ist, rein theoretisch, nicht steigerungsfähig. Unbewusst impliziert
also die Sprache dem Absoluten den Hauch Relativität und Bedingtheit, der es
vor dem negativen Ruch des Absolutistischen bewahrt. Sie weiß um die kreative Verunreinigung des einen Pols
durch den anderen.
Das
sogenannte Absolute ist nicht des Teufels, solange es sich an die Spielregeln
der Polarität hält. Seine Legitimation bezieht es aus dem Kontrastprinzip: Nur
vor dem Hintergrund des Absoluten kann sich das Relative profilieren und
umgekehrt. Beide bedingen sich gegenseitig. Nach dem Gesetz der kreativen
Verunreinigung, der Abmischung oder Bezogenheit ist das Absolute jedoch auf
einen unerreichbaren und damit imaginären Grenzwert eingeengt. So paradox es
klingt: Es gibt das Absolute, es ist
denkbar – aber eben nicht absolut,
d.h. losgelöst von seinem Gegenpol.
Übrigens,
auch den Begriffen aus dem Umfeld des Absoluten, wie beispielsweise »objektiv«
oder »total«, impliziert die Sprache dieses Minimum an selbstrelativierender
Einschränkung. Das Totale wird, nur solange es sich nicht wirklich total,
sprich »totalitär« versteht, als etwas Positives akzeptiert.
Gleiches
gilt für den Gegenbegriff »relativ«. Unbewusst verbindet man mit »Relativität«
deren zugleich logische und paradoxe Selbstrelativierung auf den Gegenpol, das
»Absolute« und »Unbedingte«, hin. Erst die Verabsolutierung des Relativen zum
»Relativistischen« gibt ihm den negativen Beigeschmack, der allen Ismen
anhängt. Sprache und Instinkte wehren sich offensichtlich gegen jede Art von
Verabsolutierung. Sie verweigern den jeweiligen Antipoden den Anspruch auf
Primat oder alleiniges Existenzrecht.
Würde man
also, dem Sprachempfinden folgend, dem Absoluten eine gewisse Relativierung
abverlangen und das Relative nicht absolut setzen, beide Pole würden aus der
unheilvollen Totalität des Widerspruchs erlöst. Sie hätten dann jene kreative Unschärfe, die das Sein so
liebt.
Die Wahrheit, wenn man sie mit
»Wirklichkeit« gleichsetzt, ist polar. Sie schlägt sich niemals völlig auf die eine
Seite. Sie liebt die Gegensätze, Widersprüche, Paradoxien. Wer sie begreifen
will, muss lernen, die konträren Pole, wie schon bei der »Frage des Standortes«
beschrieben, gleichsam stereoskopisch zu einem
Bild zu vereinen. Das verlangt Übung. Doch was den Augen gelingt, sollte auch
dem Denken möglich sein. Unser Bild von der Welt würde bei solcher
Betrachtungsweise aus der Eindimensionalität des monistischen
Denkens erlöst, von der monomanen Einfalt der Ideologien befreit. Die Fähigkeit zu »stereoskopischem Denken«
wird das weiterentwickelte, zukünftige Bewusstsein auszeichnen.
Die
Schwellenängste vor dem Entwicklungsschritt sind unbegründet. Der Verlust der
absoluten Wahrheit bedeutet nicht den Absturz ins Nichts. Die Differenzierung
der einen in die vielen Wahrheiten ist, sowenig wie die physikalisch-chemische und
die biologische Differenzierung im Lauf der Evolution, die Auflösung ins Nichts
oder in heilloses Chaos. Sie bedeutet zwar den Verlust der Einfachheit, der
Einheit und Einheitlichkeit, die ohnehin nur optische Täuschungen sind; doch
die Entthronung des sich selbst genügenden all-einen Absoluten – des Gottes,
Menschen oder Ichs – ist nur vordergründig ein Verlust. Die existentielle
Öffnung auf die Vielheit hin verwandelt den Verlust in einen Gewinn. Denn die
vielen Wahrheiten erst machen die vielen Möglichkeiten von Leben aus.