Das „Kindheitsparadies“

 

Der Schnuller und die „Neue Sinnlichkeit“

 

Es herrscht Operationssaalatmosphäre, ein kühler Empfang in einer kühlen Welt. Kaum hast du den Mutterleib verlassen, wirst du abrupt unter das Gesetz einer perfekten Hygiene gestellt. Ein komfortables Bettchen in einem keimfreien Saal scheint vernünftiger als die körperliche Nähe deiner Mutter. Fortan wird der Kampf gegen eventuelle Viren und Bakterien mit einer Akribie geführt, die alles andere in den Hintergrund drängt.

Sie haben recht. Die Welt ist voll gefährlicher Bakterien. Bakterien aller Art umlauern dich, Hygiene ist oberstes Gebot: medizinische Hygiene, moralische Hygiene, politische Hygiene – Hygiene in allen Lebensbereichen.

Des Säuglings ganze Lust kreist um die Mutterbrust. Doch steriler Gummisauger und standardisierte Flaschennahrung sind zuverlässiger und weniger risikoreich als die Mutterbrust. Tatsächlich gibt sie oft genug keine oder nicht genügend Milch. Der Mensch scheint, auf Zukunft gesehen, das einzige Säugetier zu sein, das nicht mehr imstande sein wird, seinen Nachwuchs zu stillen.

Doch einmal ehrlich. Ist ein wohlgeformter Frauenbusen nicht zu schön und zu schade für die animalische Funktion einer „Zitze“? Hat die Natur nicht eine Ästhetik walten lassen, die in eine andere Richtung weist? Hat sie nicht den Frauenbusen in ein primär erotisches Accessoire umgewandelt, ähnlich wie die herrlich üppigen Rundungen des weiblichen Po’s?

Mit dem „Lustglied“ des Mannes ist es das gleiche. Es ist,  zumindest im angeregten Zustand, zu pompös und prächtig, biologisch überproportioniert und ästhetisch zu raffiniert, um als rein animalisches „Ejakulationsorgan“ zu dienen.

Wir sind Menschen, keine Tiere! Es geht nicht mehr ums Säugen und Begatten. Muttermilch und Sperma lassen sich mit sauberen kleinen Maschinchen absaugen; die Begattung gelingt im Reagenzglas problemlos und hygienisch.

Wer will es der Frau verdenken, dass sie weder Gebär- noch Stillmaschine spielen, und dem Mann, dass er nicht zum Zuchtbullen degradiert werden möchte? Diese nostalgische Stillidylle, oder besser gesagt, diese deplazierte Säugetierromantik hält keine Mutter lange durch. Früher oder später stellt sie auf das Fläschchen um.

Mit der Verwandlung der Mutterbrust in Flasche und Gummisauger zieht ein erster kühler Hauch von Abstraktion und Künstlichkeit in dein Leben. Du musst lernen, dich mit Imitationen zu begnügen. Der Schnuller ist die erste große Täuschung, das erste Surrogat in einem Leben, das von Surrogaten beherrscht werden wird.

Der Säugling scheint den Unterschied nicht zu merken. Bei jeder Äußerung von Unlust schiebt man ihm die synthetische Brustwarze in den Mund. Er fällt auf den billigen Trick herein und ist für eine Weile zufrieden.

Die Eltern sind erstaunt und schmunzeln. Sie wiederholen das verblüffend wirksame Täuschungsmanöver endlos. Der „Beruhigungssauger“ steht symbolisch für das gigantische Angebot an schnellen Tröstern. Er ist das erste Glied in der Kette der Beruhigungsmittel, mit denen der Zivilisierte seine merkwürdige innere Unruhe zu besänftigen sucht.

Praktisch ist der Schnuller außerdem. Die Mutter braucht nicht ständig ihren Busen auszupacken und kann sich ungestört ihren häuslichen oder beruflichen Pflichten widmen. Unsere Zeit hat einen ausgeprägten Sinn fürs Praktische. In dieser Hinsicht ließe sich noch manches verbessern. Ein motorisch betriebenes, sanft schaukelndes Bettchen und zärtliche Worte der Mutter vom eingebauten Kassettenrekorder – die synthetische Ersatzmutter wäre perfekt.

Das Absurde wurde selbstverständlich. Man ist den Anblick des Schnullers, der wie ein Kork im Mund des Kindes steckt, gewöhnt. Das Selbstverständliche würde befremdend wirken. Man wäre irritiert, würden die Mütter ihren Kindern unbekümmert und in aller Öffentlichkeit die Brust reichen. Derartiges soll es noch in exotisch primitiven Kulturen geben.

Bei uns bricht Panik aus, wenn der Lolli einmal abhanden kommt. Keine Mutter käme auf die Idee, ihren schreienden Säugling in einer solchen Notsituation mit ihren eigenen Naturlollis zu bedienen. Vermutlich würde er auch den ungewohnten Genuss verweigern. Längst hat der Säugling vergessen, was er einmal wollte.

 

Ist dir an dieser geruchs--und geschmacksneutralen Imitation etwas verloren gegangen, wie mancherorts behauptet wird, oder übertrifft diese super- und dauererigierte Latexbrust nicht vielmehr das Original? Ist sie nicht Symbol einer „Neuen Sinnlichkeit“?

Haben wir nicht schon lange Abschied genommen von der primitivenBody-to-body-Sinnlichkeit? Nackte Mami, nackter Papi wiegen nacktes Baby im Arm – das passt in den Urwald, nicht in die Moderne. Dieses Bild wirkt ebenso deplaziert wie ein nacktes, stöhnendes und schwitzendes Liebespaar auf glattem PVC zwischen Chrom, Glas und Beton. Wir leben nicht mehr im schwülen tropischen Regenwald zwischen Lianen und bunten Papageien. Und auch nicht mehr in der Steinzeit.

Zukünftige Generationen werden lachen über unsere Leck-, Saug-, Beiß-, Tätschel-, Kneif- und Schnüffelsinnlichkeit. Sie werden uns „Neandertaler der Liebe“ nennen.

Wir haben es gelernt, mit dem Besteck zu essen; Fausthiebe, Fußtritte oder überschwängliche Umarmungen haben wir uns abgewöhnt. Wir schlagen mit Worten, streicheln mit Blicken. Wir werden auch die rudimentären Reste dieser direkten, feuchtklebrigen, riechenden Sinnlichkeit überwinden. Eine neue Welt verlangt eine neue Sinnlichkeit!

Bei den täglichen Einkaufsfahrten von Mutter und Kind geht es nicht mehr durch blühende Wiesen und über plätschernde Bäche. Panoramen, Gerüche und Geräusche haben sich geändert; sie sind abstrakter geworden. Unsere Sinne sind auf die Medien geeicht. Das Direkte ist passé. Gefühle beziehst du aus Lautsprecherboxen; Erlebnisse suchst du nicht in „freier Wildbahn“, sondern im Kino oder in den Illustrierten. Ist es noch angemessen, von „Surrogaten“ zu sprechen? Bist du dir sicher, wo das Echte aufhört und der Ersatz anfängt?

Mag sein, dass Surrogate eher süchtig als satt machen; vielleicht, weil ihnen das „gewisse Etwas“, die Dimension Echtheit fehlt. Aber schließlich leben wir in einer Kultur, die täglich neue Surrogate produziert. Da ist es nur logisch, des Säuglings antiquierte Sinnlichkeit weg von der Mutter auf den Ersatz, auf die Dinge umzupolen. In einem Konsumentenleben spielt sich das Entscheidende und Faszinierende nicht mehr zwischen Mensch und Mensch, sondern zwischen Mensch und Ding ab.

Drum kleiner Prinz, nuckle selig an deinem Schnuller! Drück dein Kuscheltierchen an dich, genieße deine mollig weichen Hemdchen und Windeln. Wenn dir der Schnuller nicht schmeckt, steck dir den Daumen in den Mund. Du brauchst niemand anderen. Mami ist überglücklich, wenn du dich mit dir selbst beschäftigst.

Du süßer kleiner Narziss. Später wirst du dir an deinen Geschlechtsorganen einsame Lust verschaffen oder dich in die Welt der Phantasie und Tagträume zurückziehen. Ob Onanie oder Kunstgenuss – immer wirst du Wege finden, dich selbst zu trösten und glücklich zu machen.

 

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