Die Unschuld der Kleinen

 

Sie lassen sich kaum leugnen, die ersten lustvollen Regungen da „vorne unten“. Ist es ein Scherz oder eine Verirrung der Natur? Was soll das steife Gliedchen eines winzigen Knäbleins? Armer Freud, böser Freud. Konntest du nicht wenigstens die unschuldigen Kleinen von dem prekären Thema Sex ausklammern?

Früher hatte man kindliches Geschlechtsleben einfach ignoriert und so erfolgreich aus dem Bewusstsein verdrängt, dass man schließlich selbst die Mär von der „Unschuld der Kleinen“ glaubte. Man war davon überzeugt, dass die Kinder mit dem leidigen Thema Sex noch nichts zu tun hätten, und wollte sie solange wie möglich davor bewahren.

An dieser Einstellung hat sich trotz Freud und trotz einer gewissen Liberalisierung nicht sehr viel geändert. Die Eltern können sich noch immer nicht vorstellen, wie kindliches Liebesleben aussehen und was für einen Sinn es haben sollte. Das Knäblein kann noch nicht ejakulieren, das Mädchen ist noch nicht gebärfähig, also ist jede erotische Annäherung verfrüht. Höschen hoch, Röckchen runter, Händchen weg!

Die wirksamsten Waffen im Kampf um die kindliche Unschuld sind nach wie vor die uralten Tabus Nacktheit und Berührung. Es kommt der Tag, da wird dir klargemacht, du habest Pimmelchen oder Muschilein vor den Augen anderer zu verbergen. Und wenn sich auch deine aufgeklärten Eltern zu Hause weiterhin nackt präsentieren, so merkst du doch, dass in der Öffentlichkeit andere Regeln herrschen. Allmählich lernst du, dich deiner Nacktheit zu schämen.

Eine einleuchtende Erklärung wird dir nie gegeben. Eine Scham, die muss sein. Da gibt es nichts zu fragen oder zu erklären. Das macht die Sache so verwirrend und geheimnisvoll.

Naive Gemüter behaupten, Sex und Schamgefühl gehörten „von Natur aus“ zusammen. Und da es die Fliegen auf dem Tischtuch und die Hunde auf der Straße treiben, sagen sie, das eben sei der große Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass der Mensch nicht „schamlos“ seinen Trieben nachgehe!

„Sich Schämen“ ist das unangenehme Gefühl, bei einer verbotenen, anrüchigen Aktion ertappt worden zu sein. Vielleicht war es nur ein verbotener Blick oder Gedanke. Wer sich schämt, bekennt sich indirekt schuldig. Das implantierte Schamgefühl rückt den Sex automatisch in den Bereich des Verbotenen, moralisch Zwielichtigen, Unanständigen.

Nicht nur die „Schamgegend“, auch alle damit verbundenen Gefühle, Erregungen und Wünsche lernst du zu verbergen. Später wirst du mit Mühe ein zögerndes „Ich mag dich“ über die Lippen bringen. Statt unbekümmerter Liebeserklärung wirst du die Augen niederschlagen und keine Worte finden. Sich schämen statt provozieren – die Schamschranke wirkt perfekt.

Was ist so verderblich am Anblick der Geschlechtsorgane? Warum müssen Schwanz und Säckchen ein so tristes Kerkerleben führen? Was verbietet den Anblick jenes behaarten Hügelchens mit den fast unsichtbaren Lippen? Warum muss es samt Busen und Po so eifrig und argwöhnisch versteckt werden?

Der Appetit kommt über die Sinne. Gemäß dem Motto:„Aus den Augen, aus dem Sinn“ bietet sich die optische Abschirmung der provozierenden Körperteile als die einfachste Methode an, den Störfaktor Sex aus dem Bewusstsein zu verbannen. Auf geschlechtsneutrales Auftreten getrimmt, hast du alles andere als eine „elektrisierende Ausstrahlung“ auf deine Umgebung. Erotisch Stimulierendes schimmert zwar von Illustrierten und Plakaten, doch zu anderen Zwecken, als dich erotisch zu aktivieren. Unbekümmerte, „schamlose“ Erotik im Alltag ist gewiss nicht erwünscht.

Das Tabu Nacktheit leidet derzeit stark unter Aufweichungstendenzen, den einen zur Freude, den anderen zum Entsetzen. An Badestränden zelebrieren sie auf der Suche nach der natürlichen Unschuld Nacktheit. Doch eines fällt auf. Auch dort „passiert“ nicht mehr als an den Orten verkrampften Schamgefühls. Es herrscht eunuchenhafte Geschlechtslosigkeit. Man gibt sich locker, locker bleibt auch das Glied. Da wird nichts steif oder feucht trotz teilweise verführerischem Angebot. Offensichtlich lassen sich die heimlichen Ängste nicht wie Kleidungsstücke ablegen. Angst lähmt, und Lüsternheit gedeiht schließlich doch nur, wo es kein Fremder sieht.

 

Das Tabu Nacktheit ist ins Wanken geraten. Unangefochten dagegen konnte sich das Tabu Berührung behaupten. Wenn die Kindergartenliebe zu stürmisch und die forschende Neugier der Kleinen an ihrem Körper „handgreiflich“ wird, beginnt das altbekannte Ablenkungsmanöver. Berührung der Geschlechtsorgane geschieht nur noch aus Versehen, oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, beim Waschen und Abtrocknen.

Vermutlich entwickelt die Männerwelt im Allgemeinen mehr Lüsternheit als die Frauen, weil des Knäbleins Organe exponierter und zwangsläufig öfters „zufälligen“ Berührungen ausgesetzt sind. Vielleicht auch erlauben sich zärtliche Mütter öfters das liebkosende Spiel mit des Söhnleins putzigem Anhängsel, während sie des Töchterleins weniger auffälliges Lustzentrum unbeachtet lassen. Oft genug muss der kleine Junge als Zärtlichkeitsersatz für den gleichgültigen Ehemann herhalten.

Die Väter, die als geldbeschaffende Randfiguren abends abgearbeitet zu Hause auftauchen, haben kaum noch Lust, ihr Töchterchen mit Zärtlichkeiten zu verwöhnen. Die Mädchen bleiben unterstimuliert und wachsen in eine kritische Distanz zur Männerwelt. Die enttäuschten Mütter bestärken die Zweifel ihrer Töchter und warnen sie vor den Männern, die doch nur „das eine“ wollen.

Es lässt sich nicht übersehen. Die Väter haben sich zwischenzeitlich gebessert. Sie sind zärtlicher und anschmiegsamer geworden.

Das Recht auf Liebkosung haben die Eltern gepachtet. Eifersüchtig wachen sie über deine Gefühle. Sie sind stolz und glücklich, wenn du nach zaghaften erotischen Ausreißversuchen ins Elternhaus zurückkehrst. Doch irgendwann lassen sich in den Zärtlichkeiten zwischen Eltern und Kindern die erotischen Komponenten nicht mehr leugnen. „Ödipus“ lässt grüßen!

Das Ganze wird peinlich. Wer will sich schon ewig von Mama und Papa, von Oma’s, Onkeln und Tanten drücken und abschmatzen lassen? Es wäre an der Zeit, sich Zärtlichkeiten draußen und anderswo zu suchen. Doch welche Eltern sehen das gerne?

Berührungen werden auf wenige geschlechtslose Rituale beschränkt: Küsschen rechts, Küsschen links und Händegeben. Jungen und Mädchen gehen auf Abstand. Lüsternen Knaben bleibt nur die aggressiv getarnte Annäherung per Zwicken, Zupfen und An-den-Haaren-Ziehen. Das anständige Mädchen hat es nicht gern, wenn es angefasst, betätschelt und begrapscht wird. Derartiges löst eher Unmut aus als Schauer der Lust. Das „unberührte“ Mädchen ist moralisch bestens abgesichert und gegen Versuchungen gefeit.

In der langen Eiszeit der Berührabstinenz bleibt die erotische Sensibilität auf einem kindlichen Stadium stehen. Später taucht sie als infantiler Wunsch nach Streicheln und Geborgenheit wieder auf. Dein erotischer Appetit wurde in der Kindheit mit Flaschennahrung und Griesbrei gefüttert; dann gab es lange Zeit nichts. Deine erotischen Geschmacksnerven sind nicht übermäßig entwickelt, aber immer noch brauchbar genug für jenes Menü, das man dir einmal vorsetzen wird.

 

„Nicht anschauen, nicht berühren!“ Die Mechanik der beiden Tabus ist die gleiche. Man hungere den erwachenden Geschlechtstrieb physisch aus – die psychische Blockade folgt beinahe wie von selbst.

Zudem erzeugt jedes Tabu Angst. Was unverständlich, geheimnisvoll und verboten ist, flößt Angstgefühle ein. Die verborgenen Geschlechtsorgane werden im Unbewussten zu monströsen Unbekannten. Das Glied des Mannes verwandelt sich in einen gefährlichen Dolch, die Scheide der Frau in einen bedrohlichen Schlund.

Das Berührtabu produziert Berührangst. Diese Angst wirkt wie eine Isolierschicht, die verhindert, dass der Funke überspringt. Unsere Kultur ist eine Kultur der Kälte und Distanz, ein Nebeneinander von vakuumverpackten Menschen, die sich für jede noch so zufällige Berührung entschuldigen. Sie umarmen sich nur, wenn ihre Gefühle außer Kontrolle geraten. Sie leben in der permanenten Angst, sich „zu nahe“ zu treten.

Es ist schon kurios. Auf der einen Seite vermeiden wir jede Berührung, auf der anderen Seite rühmen wir uns unserer „Kontaktfreude“, die sich in forschem Händedruck, geradem Blick und verbaler Aufgeschlossenheit äußert. „Mondo verbale“ – Welt der Schwätzer und Geschwätzigen! Das Wort ist schon ein geniales Medium; es bremst und kühlt ab. Bekanntlich kann man Liebe und Hass zerreden.

 

Unterentwickelt, schamhaft, ängstlich und geschwätzig – das alles spricht nicht für einen erotisch kultivierten Typ Mensch. Doch wer hätte auch Interesse an erotischer Sensibilität, an erotischem Temperament? Derlei Begabungen passen in nostalgische Romane, nicht aber in den harten Alltag der Industriekultur.

Darum liebe Eltern, verhindert, dass sich eure Kinder erotisch entwickeln und zu früh auf den Geschmack kommen! Sie könnten krankhaft auf das Thema Sex fixiert werden und die wichtigeren Dinge des Lebens vernachlässigen. Lenkt sie ab. Wenn es sich nicht umgehen lässt, klärt sie knapp und verständlich auf. Erzählt ihnen kindergerecht, wie das mit der Liebe ist.

„Wenn der Papi die Mami ganz arg lieb hat, wird sein Schwänzchen groß und steif, und er steckt es in Mamis Muschilein. Dann machen sich tausend kleine Schwimmerchen auf den Weg zum großen gelben Luftballon. Und Mami bekommt ein kleines Baby.“

Das genügt fürs erste. Lasst eure Kinder „Mutter“, „Lehrer“ oder „Lokomotivführer“ spielen, nicht aber „Liebespaar“; das ginge entschieden zu weit. Wenn es euch gelingt, sie vom Thema Liebe abzulenken, mit zarter Hand, aber nachdrücklich, dann dürft Ihr hoffen, dass eure Kleinen ihre „Unschuld“ nicht allzu früh verlieren.

 

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