2.
Was sie dir anbieten
Unter der bunt schillernden Oberfläche
herrschen Dogmen und Tabus heimlich, aber diktatorisch über deinen Alltag…
Heimliche Dogmen
Worauf steuert der
Domestizierungsprozess „Erziehung“ hin? Was hat dieser zurechtgestutzte, in
jeder Beziehung harmlose Typ Mensch zu erwarten, wenn
für ihn der „Ernst des Lebens“ beginnt? Weckt dieser Begriff optimistische
Hoffnungen, oder klingt nicht schon ein Hauch Ironie durch bei denen, die
darüber sprechen?
Auf den ersten Blick sieht das Angebot
an Leben phantastisch aus. Erst beim genaueren Hinschauen wirst du merken, dass
dein Leben in erschreckend geordneten Bahnen verläuft. Bei aller scheinbaren
Liberalität – der Normendruck ist gewaltig, dein persönlicher Spielraum
minimal. Unter der bunt schillernden Oberfläche herrschen Dogmen und Tabus
heimlich, aber diktatorisch über deinen Alltag.
Nur wenigen Privilegierten oder
selbstbewussten Außenseitern gelingt der Ausbruch aus dem ziemlich genau definierten
Schema. Die Masse stolpert naiv und ahnungslos in ein Leben, dessen
Rahmenbedingungen im voraus festgelegt sind. Durch
ihre Erziehung dazu prädestiniert, gehen sie den vorgeschriebenen Weg gläubig
und beinahe konfliktlos.
Der Normenkatalog umfasst alle
Bereiche des menschlichen Lebens: das Überleben, die
Liebe und das Zusammenleben. Unter den Begriffen „Beruf, „Ehe“, „Familie“ und
„Nation“ werden die jeweils gültigen Antworten geliefert.
Diese „kulturellen Grundwerte“ haben
eine jahrhundertelange Tradition. Das hat sie selbstverständlich und beinahe
unangreifbar gemacht. Obwohl sie teilweise zur Farce verkommen oder zu
monströsen Varianten entartet sind, werden sie von den zu Mumien erstarrten
Institutionen hartnäckig verteidigt. Man ist wohl davon überzeugt, die Probleme
des menschlichen Lebens seien ausdiskutiert und für alle Zeiten schlüssig
gelöst.
Veränderungen oder Revisionen auf dem
Sektor Moral gelten als unseriös. Eine derart bornierte, traditionalistische
Sturheit könnte sich keine naturwissenschaftliche Disziplin leisten. Kein
Wunder, dass die „moralische Kreativität“ des Homo sapiens weit hinter seiner
wissenschaftlich-technischen und ästhetisch-künstlerischen Kreativität
hinterherhinkt.
„Beruf, „Ehe“, „Familie“ und „Nation“
– da klingen ebenso viele utopische Versprechungen wie moralische Forderungen
mit. Da treffen Idee und Wirklichkeit nur allzu oft hart aufeinander.
Auf ein Neues! Lass uns wieder einmal
die infantile Gutgläubigkeit und den eingeflößten Respekt über Bord werfen, um
die Illusion, vielleicht auch den Betrug zu entlarven, der in diesen Normen
steckt. Lass uns die üble Macht der Gewohnheit brechen, um unter dem Mantel des
Selbstverständlichen das Fragwürdige und Absurde zu entdecken. Anhaltspunkte
zum Zweifel dürfte es genügend geben.