„Familienidylle“ und „Nationale Eintracht“

 

Zwischen zwei Extremen

 

Ihre Blicke verklären sich, ihr Tonfall wird pathetisch, wenn sie von „Familie“ und „Nation“ sprechen. Die Familie rühmen sie als die „Keimzelle des Staates“ und die Nation als die „politische und kulturelle Heimat“, deren ein jeder Mensch bedarf. Die derzeitigen, allgemein beobachteten Auflösungserscheinungen der Institution Familie und des „nationalen Gedankens“ deuten sie als Zeichen dekadenter Verwahrlosung.

Wenn du dich weigerst, eine Familie zu gründen, wittern sie in dir einen suspekten, verantwortungsscheuen Egoisten. Wenn du dich von Staat und Staatsdienern angeödet abwendest, werfen sie dir die „Flucht ins Private“ vor. Alle neuen Experimente des Zusammenlebens wie etwa Wohngemeinschaften beobachten sie misstrauisch. Denn an den Grundwerten Familie und Nation zu rühren, gilt schon beinahe als Sakrileg.

Auf ein Sakrileg mehr oder weniger soll es uns nicht ankommen. Unterstellen wir einmal, die Verdrossenheit an Staat und Familie sei mehr als dekadenter Snobismus oder cooler Vandalismus. Rütteln wir an dem Dogma, das behauptet, Familie und Nation seien die alleinseligmachende Antwort auf die sozialen Bedürfnisse des Menschen.

 

Wenn du ehrlich bist – nationale Gefühle überwältigen dich nur selten. Die Politiker versuchen zwar per frisch poliertem Feindbild die auseinanderbröckelnde Nation auf nationale Eintracht einzuschwören. Doch die Zeiten, wo fanatische Volksführer die Massen zu ekstatischer Verbundenheit entfachten, sind vorbei.

„Nationalstolz“ fühlt du vielleicht noch bei internationalen Sportveranstaltungen. Deine Fahne flattert, sie schmettern deine Nationalhymne und du kletterst heimlich mit dem Sieger aufs Podest. Was für ein Gefühl, einer siegreichen Nation anzugehören!

Im Alltag sieht das anders aus. Da ist dir dein Volksgenosse ziemlich gleichgültig. Man kann es dir nicht übel nehmen. Dieser dein Staat ist ein Massenstaat. Die Öffentlichkeit, in der du einen Großteil deines Lebens verbringst, ist nichts anderes als „Masse“.

„Masse“ engt ein. Auf den minimalen Spielraum, der dir zusteht, bist du zwar bestens vorbereitet. Weder im Gedränge eines Supermarkts noch im 32. Stockwerk eines Hochhauses überfällt dich Panik. Du erträgst das feinmaschige Netz von Regeln und Normen, das dich auf Schritt und Tritt bewacht. Die Freiheit, die sie dir ständig anpreisen, hast du so recht nie kennen gelernt. Dennoch, das Gefühl von Enge bleibt.

„Masse“ überfordert dein Potential an sozialen Gefühlen. Wolltest du jedem Mitmenschen mit emotionaler Aufmerksamkeit begegnen, du wärst bald ausgelaugt. In einer Art Schutzreaktion panzerst du dich innerlich gegen deine Umgebung ab; andernfalls würde sie dich aufsaugen. Es ist schon schwierig genug, nur wenige zu lieben. Eine „Masse“ zu lieben ist unmöglich.

Wen wundert es, dass sich die Menschenmassen in den Städten stumpf, gleichgültig und freudlos aneinander vorbeischieben? Die Ameisen scheinen ihr Vorbild zu sein. Es gibt keine Querverbindungen mehr. Jedermann befindet sich auf einsamen Pflichtgängen, „Besorgungen“ genannt. Man sucht sich seinen Weg durchs Gedränge.

Nur der Naive wird die „soziale Gleichgültigkeit“ beklagen. In Wahrheit ist sie eine aus der Not geborene Tugend, die das Funktionieren der Massen erst ermöglicht. Es stimmt, die Zeiten sind kälter geworden. Die Erfolgsstrategie der modernen Wirtschaft favorisiert das Ich, fördert den Konkurrenztrieb des einzelnen. Die „Eigeninitiative“ kurbelt das Geschäft besser an als solidarische Gemeinschaftsgefühle. Das haben selbst hartgesottene Kommunisten erkannt.

Bist du erst einmal auf Ego- und Karrieretrip abgefahren, kannst du dir soziale Gefühlsduseleien nicht mehr erlauben. Das hochgeputschte Wettbewerbsdenken sieht in jedem Kollegen einen Konkurrenten, in jedem Konkurrenten einen latenten Feind. Erbarmungsloser Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb sind die logischen Exponenten dieser Denkungsart.

Wer wird hier von einer „sozialen Eiszeit“ reden? Bei einem System, das seinen Erfolg einzig am steigenden Bruttosozialprodukt misst, taucht die „soziale Kälte“ in den Bilanzen nicht auf. Ist sie doch der heimliche Schlüssel zum Erfolg. Man kann nicht beides zugleich sein: erfolgreich und sozial.

 

Als anonymer, affektloser Massenmensch suchst du Zuflucht in deiner Familie. Sie bietet sich an als die rettende Insel im Meer der Anonymität, als Oase der Gefühle in der Wüste der Gleichgültigkeit. Doch die Familie ist nicht mehr, was sie einmal war. Sie hat sich konsequent auf den modernen Zwei-bis-drei-Personen-Haushalt hinentwickelt. Diese „Minifamilie“ ist das extreme und gefährliche Gegenstück zur Masse. Werden die Gefühle in der Masse verdrängt oder total „ausgedünnt“, so leiden sie in der Kleinfamilie an künstlicher „Hyperkonzentration“. Das heizt sie auf.

In der Tat, wenn du aus der Berufswelt in dein privates Reich zurückkehrst, ist das wie ein Wechsel zwischen Klimazonen: aus der Arktis in die Tropen! Du agierst deine Gefühle an zu wenig Personen, auf zu engem Terrain und oft auch am falschen Platz aus. Ehepartner oder Kinder müssen als Blitzableiter aufgestauter Aggressionen und frustrierter Machtgelüste herhalten. Es entwickelt sich ähnlich wie in der erotischen Beziehung eine Art Monopol, ein totaler Besitzanspruch auf die Gefühle des Partners. Das ist gleichermaßen utopisch und fatal. Ein einzelner kann die sozialen Bedürfnisse des anderen nie erfüllen.

Die moderne Kleinfamilie ist nach außen isoliert. Bindungen, wann immer sie entstehen, werden zerrissen. Das beginnt im Kindergarten und geht weiter in Schule, Ausbildung und Beruf. Denn unsere Gesellschaft ist „mobil“. Sie kann keine Rücksichten auf gewachsene Bindungen nehmen.

Reiß eine Pflanze mehrmals aus und versuche, sie neu zu setzen. Irgendwann wird sie nicht mehr anwachsen. Die Chancen für eine soziale „Verflechtung“ des Modernen stehen schlecht. Um so mehr konzentriert er sich auf die Familie. Aus Angst vor späterer Einsamkeit versuchen die Eltern, ihre Kinder an sich zu binden. Weil sie ahnen, dass sie sich selbst nicht genügen werden, und weil sie es versäumt haben, soziale Bindungen nach „draußen“ zu knüpfen, hoffen sie auf ihre Kinder als „Gesellschafter“.

Und so werden Familienbande zur lähmenden Umklammerung. Wenn du dein Ich retten willst, bleibt dir nichts anderes übrig, als in die innere Emigration zu gehen Und beim Familienfest spielst du die Farce mit: rituelle fröhliche Gemeinsamkeit, gespeist aus der Erinnerung an „glückliche Tage“. Vergessen der tägliche aufreibende Kleinkrieg, der sich auf der Familienbühne abspielte.

Idylle oder Kriegsschauplatz? Das Märchen von der Familie als dem „Hort der Menschlichkeit“ fällt schwer zu glauben angesichts der Dramen, die dort stattfinden.

Abkühlung in die überhitzte Kleinstparzelle Familie könnte das Partnerschaftsmodell bringen, wenn es von den Ehepartnern auf die Eltern-Kind-Beziehung ausgeweitet würde. Man ziehe Aufmerksamkeit und Gefühle von der Person des anderen ab und lenke sie auf Dinge oder gemeinsame Ziele. Die Person-Sach-Beziehung ist stabiler und weniger konfliktanfällig als die Person-Person-Beziehung.

Schenk deinem Kind einen „PC“ als Spielkameraden, und das ewige Gezeter und Geplärre ist vorbei. Überlass es sich selbst und seinem Spielzeug, auf dass es lerne, ohne andere auszukommen. Irgendwann wird es diese nervende, für beide Teile frustrierende Anhänglichkeit überwinden.

Emanzipation und Narzissmus weisen wie vielerorts den Weg aus überflüssigen Konflikten. Emanzipatorische Unabhängigkeit und narzisstische Selbstgenügsamkeit befreien von der demütigenden gegenseitigen Abhängigkeit und dem triefäugigen Bedürfnis nach Gemeinschaft. Die Atmosphäre wird entkrampft. Die antiquierte „soziale Bindung“, deren Grundlage das „Aufeinander-angewiesen-Sein“ war, ist längst hinfällig geworden. Das Zeitalter der festen Beziehungen geht offensichtlich seinem Ende entgegen.

Die Rudimente der sozialen Instinkte aus grauer Vorzeit können auf einem höheren Niveau, subtil und spielerisch, befriedigt werden. Man trifft sich sporadisch in Clubs, Vereinen und zu Partys. Man scherzt und lacht und pflegt Geselligkeit in standesgemäßer Umgebung. Man diskutiert mit Gleichgesinnten, nicht um anstehende Probleme zu lösen, sondern im Sinne einer gehobenen, geistvollen Unterhaltung. Das Soziale als Gesellschaftsspiel.

Es ist wie mit der Erotik. Wer wird denn gleich miteinander schlafen! Derart plumpe Direktheit ist überholt. Der spielerische Flirt, das amüsante verbale Als-ob genügt. Der Mensch befreit sich endlich aus dem sumpfigen Morast der Erdenschwere, um in das lichte All sublimer Geistigkeit aufzusteigen.

Nur ewig Gestrige werden behaupten, die rituelle Lustigkeit der Partys, das Schulterklopfen und nächtelange Diskussionen seien oberflächliches Blabla; das gemeinsame Hobby, Thema oder Engagement könne über die Beziehungslosigkeit nicht hinwegtäuschen, aus der Isolation nicht befreien.

Wer will das noch, „Gemeinsamkeit“? Wir leben nicht mehr in der Urhorde. Die Kritiker der Massengesellschaft haben es nicht bemerkt. Die „Gruppe“ ist längst tot. Vor Jahren war „Gruppe“ einmal ein Zauberwort. Jedermann hoffte auf die Renaissance der Gruppe. Es war so etwas wie eine Bewegung: Gruppendynamik, Gruppensex, Gruppentherapie… Man hatte entdeckt, dass der Mensch einmal ein „Gruppentier“ gewesen war, und versuchte, die Idee Gruppe zu neuem Leben zu erwecken.

Dieser Versuch, gegen die modernen Realitäten anzutreten, ist kläglich gescheitert. „Masse“ ist die Tatsache, mit der wir leben müssen. Wir können die Menschenmassen nicht einfach abschaffen oder ausrotten. Wohl oder übel müssen wir uns anpassen. Das gelingt nur, wenn wir unsere zu überhitzter Intensität neigenden Gefühle – aggressive, erotische und soziale – abflachen. Das Konzept der „flat emotions“, der wohlwollenden Gleichgültigkeit, entspannt die Atmosphäre. In der Praxis hat es sich schon recht gut durchgesetzt. Den Konsens der Massen können wir nicht den emotionalen Kräften überlassen, es sei denn, es gelänge, die im Erbgut schlummernden prähominiden Masseninstinkte durch einen gentechnischen Eingriff neu zu aktivieren.

Vorläufig ist es die Aufgabe der Massenmedien, das Ich in der Masse auf die gleichen Ziele auszurichten, es gewissermaßen „gleichzuschalten“. „Gleichschaltung“ ist ein böse klingendes Wort für jene, die sich in ihrer Ichverliebtheit an ihrer Individualität festklammem, als sei sie ihr kostbarster Besitz.

Keine Sorge, meine Damen und Herren Narzissten! Ist euer heißgeliebtes Ich erst einmal gleichgeschaltet, dürft ihr es innig und mit Hingabe pflegen.

Nostalgiefreaks und Exoten aus vergangenen Zeitaltern mögen sich zu Blut-und-Boden-Gemeinschaften vereinigen und ihre weltabgewandte „soziomanische“ Gruppenidylle pflegen. Sie wirken wie Biedermeiermöbel in einer modernen Wohnlandschaft. Man mag sich in einem Anflug von ästhetischem Snobismus für Stilmöbel begeistern, aber sich mit deren Gefühlswelt und Geistesart identifizieren?

Gegenwart und Zukunft sprechen eine andere Sprache. Die Gruppe ist tot, es lebe die Masse! Wir sollten uns mit der Idee Masse anfreunden. Masse ist besser als ihr Ruf.

„Massa“: zu deutsch: Teig, Klumpen. Die Masse ist der Teig, der sich nach den Bedürfnissen der Gegenwart formen lässt. Sie ist die neutrale Trägersubstanz für hochwirksame Stoffe. Sie ist die geschmacksmilde Grundlage für raffiniert gewürzte Speisen; sie ist das gallertige Substrat, auf dem exotische Mikroben gedeihen; sie ist das Auffangnetz für nervöse Akrobaten; sie ist der besänftigende Schoß für den chaotisch umherirrenden Samen. Gerade jene, die auf ihre exzentrische Individualität pochen, sollten der Masse, die sie schützend trägt, dankbar sein.

 

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