Die Stunde der Politiker

 

An Masse sind sie alle interessiert. Die Kirche wünscht sich die Herde gläubiger Schäflein, die Wirtschaft profitiert von Massenproduktion und Massenkonsum. Und was wären die Herrschenden ohne die Masse ihrer Untertanen?

Die Politiker sind die Konstrukteure und eigentlichen Nutznießer dieser Pseudosupergruppe Nation. Was sie gemeinhin als „politische Großtat“ feiern, den Zusammenschluss von kleinen politischen Machteinheiten zur nächst größeren, könnte man unter dem Aspekt des Bio-Urmodells „Mensch gleich Hordentier“ als glatte Fehlleistung aburteilen. Doch das Interesse der Politiker konzentriert sich auf anderes als auf das soziale Wohlbefinden des Kleinen Mannes.

Vom Hordenpascha zum Staatschef, vom Stammesfürsten zum Repräsentanten einer Weltmacht! Das ist eine Entwicklung, die gewiss den begeistert, der ein Gespür für Macht hat. Das Gefühl des Siegers in der Wahlnacht muss schon überwältigend, gewissermaßen „orgastisch“ sein. Man kann den seligen Glanz in seinen Augen gut verstehen, zumal wenn man bedenkt, was für ein Weg es war, der zur Macht führte.

Frühere Potentaten hatten es leichter. Ihnen wurde die Macht vom Schicksal in die Wiege gelegt. Sie regierten „von Gottes Gnaden“, oder sie nahmen sich die Macht in einem gewaltsamen Handstreich. Der Politiker moderner Prägung muss sich beharrlich innerhalb einer Partei hochdienen, denn ohne Partei läuft nichts. Er kann sich kein Denken leisten, das die ideologische Schmalspur seines Parteiprogramms verlässt. Er muss sich wenigstens schemenhaft in „links“, „Mitte“ oder „rechts“ einordnen lassen. Der Wähler liebt die ideologische Klassifizierung. „Parteienlose“ sind ihm suspekt.

Autorität war einmal in grauer Vorzeit Nebenprodukt von Persönlichkeit. Der Hordenanführer musste Stärke, Geschick und Tapferkeit beweisen, um die Führungsrolle zu übernehmen. Heute sieht das anders aus. Wie kann sich der moderne Anwärter auf eine Machtposition profilieren? Was hat er anderes zu bieten als große Worte und Versprechungen? Autorität bezieht er aus der Suggestionskraft seines äußeren Auftretens und seiner Rhetorik.

Im Grunde muss er den Herrscher alter Couleur aus vordemokratischen Jahrhunderten beneiden. Jene hatten es nicht nötig, sich ein erfolgversprechendes Image verpassen zu lassen. Sie brauchten sich weder dem Volk anzubiedern noch ihre Machtgelüste zu verheimlichen.

Kein Berufsstand muss seine Motive vor sich und den anderen so gründlich vertuschen wie die Politiker. Ihre Lust zu herrschen funktionieren sie um in die Freude am Dienen. Der Herrscher als der „erste Diener“ seines Volkes! Eine der genialen politischen Frivolitäten.

Ihren Drang zur Macht begründen sie mit einem „inneren Auftrag“. Sie bieten sich als messianische Heilsbringer oder als kompetente Macher, als Charismatiker oder Pragmatiker an. Bei diesem Akt der Anbiederung gewinnt der geschicktere Taktiker, der bessere Komödiant. Wen wundert es, wenn ein professioneller Schauspieler zum mächtigsten Mann der Erde avanciert? Übrigens, schon Kaiser Nero hielt sich für einen begabten Herrscher und Komödianten.

Hat der Politiker sein Ziel erreicht, darf er endlich an jenem Pokerspiel teilnehmen, das die Mächtigen dieser Welt unter sich austragen. Da sie nun einmal die Spezialisten für Macht sind, ist ihr Machthunger unersättlich. Wenn die Religion von der „Weltreligion“, die Wirtschaft von der „Weltwirtschaft“ träumt, warum sollte der Mächtige nicht von der „Weltmacht“ träumen?

Die Politik des „Gleichgewichts“ ist nur fromme Verbrämung, attraktiv für den latent Unterlegenen. Insgeheim sucht jede Macht den Vorsprung, die Ausweitung ihrer Einflusssphäre. Unbarmherzig werden die entlegensten Länder aus dem Dornröschenschlaf ihrer Autonomie gerissen und in das Magnetfeld der Großen laviert. Dem Sog der Machtblöcke kann sich nur entziehen, wer weder wirtschaftlich noch strategisch etwas zu bieten hat, im Klartext: die Ärmsten der Armen.

Bei aller Kunst des Bluffens – in dem politischen Pokerspiel gewinnt, wer die besseren Karten hat. Die Industriekultur hat die Wirtschaft zu einem entscheidenden Machtfaktor hochkatapultiert. Wer über eine florierende Wirtschaft verfügt, kann es sich leisten, sanften Druck auf die wirtschaftlich abhängigen Verbündeten auszuüben. Er kann auch an seine Gegner großzügige Angebote einer friedlichen „Koexistenz“ machen. Das Gefühl der wirtschaftlichen Überlegenheit ist Balsam für den vom Machthunger Geplagten.

Und welch glücklicher Zufall: Wer über erfolgreiche Wirtschaft samt Spitzentechnologie verfügt, verfügt auch über die wirkungsvollsten Waffenarsenale. Denn aller Fortschritt in Wissenschaft und Technik dient irgendwo, heimlich oder offen, dem Fortschritt der Vernichtungsmaschinerie. Die Mächtigen sparen nicht an den notwendigen „Investitionen“.

Man kann es ihnen nicht verübeln. Die militärische Macht ist die letztlich einzige überzeugende Trumpfkarte im Spiel um die Macht. Der süße Traum von der Abrüstung ist reine Illusion, solange das „Weltmachtproblem“ nicht gelöst ist. Der Endsieg eines der Giganten steht bekanntlich noch aus.

Die Herrschenden setzen umso mehr auf militärische Macht, als sie einsehen müssen, dass wirtschaftliche Erfolge ein Unsicherheitsfaktor ersten Grades sind. Nirgendwo bekommen die Politiker ihre Hilflosigkeit deutlicher demonstriert als in der Wirtschaftspolitik. Sie wirken wie jämmerliche Marionetten an den Fäden unsichtbarer Kräfte.

Da sie in der Sache wenig zu bieten haben – wo drängen sich mehr Scharlatane und Schnorrer? – konzentrieren sich die Politiker auf den Machterhalt. Sie klammem sich an dem Schleudersitz fest, den jede Machtposition bedeutet. Da lauern lüsterne Parteigenossen und frustrierte Oppositionelle. Nicht zu vergessen die Schar der journalistischen Saubermänner, die sich für das „Gewissen der Nation“ halten. Gleich einer Meute von Bluthunden hetzen sie hinter dem Blutgeruch eines „angerissenen“ Gejagten hinterher. Die Lust des Kleinen Mannes, die Mächtigen zu stürzen, ist beinahe ebenso groß wie die Lust, sich zu unterwerfen.

„Imagepflege“ ist oberstes Gebot für den Politiker. Rhetorische Selbstbeweihräucherung, verbale Demontage des Gegners, alles im Hinblick auf die nächste Wahl – da bleibt nicht mehr viel Energie für die Sache. Sie haben sich im Fernsehen breit gemacht und träufeln dem Zuschauer die tägliche Dosis Propaganda ins ausgedörrte Gehirn.

Agitieren, Schwadronieren, nichtssagendes Blabla – das tägliche Machtgerangel der Politiker ist miserables, langweiliges Theater, Ablenkungsmanöver von der eigenen Unfähigkeit, die Probleme zu lösen. Sie warten darauf, dass unverhoffter Rückenwind einsetzt und die schlaffen Segel der Konjunktur aufbläst. Wenn es aufwärts geht, trommeln sie sich stolz auf die Brust; wenn das Schiff zu sinken droht, zetern sie über alle möglichen „ungünstigen Einflüsse“. Eigenes Versagen ist tabu. Und selbst wenn sie mit Schmach und Schande aus dem Amt gedrängt werden oder vorher „freiwillig“ den Hut nehmen, sie haben nichts zu fürchten.

Die politische Verantwortung, die sie lauthals predigend auf sich nehmen, wirkt sich für sie niemals bedrohlich aus. Längst haben sie fette Pfründe auf die Seite gebracht und dürfen im Falle „politischen Missgeschicks“ mit einer sicheren Pension rechnen.

Die Politikerclique ist etabliert. Man hat sich an sie gewöhnt und daran, dass sie alles pervertieren, was sie den Massen buhlend ins Ohr flüstern. Sie springen mit ihren Wählern nicht viel anders um als eine Prostituierte mit ihrem zahlenden Kunden. Dass sie ihr Publikum dennoch bei Laune halten und immer wieder erfolgreich zum Urnengang animieren, grenzt an ein Wunder.

 Ist es die „demokratische Illusion“, die dem Kleinen Mann vorspiegelt, er dürfe im Spiel um die Macht mitmischen? Es muss wohl der Glaube sein, der Berge versetzt und die Politiker im Glorienschein des Messias erstrahlen lässt, auch wenn bisweilen eine diabolische Fratze oder biedermännische Einfalt auf die Gläubigen herunterblickt.

Der Wähler kann von dem Glauben nicht lassen, die Politiker seien um sein Wohl besorgt. Sein Glaube ist stärker als sein Misstrauen. Er kann sich nicht vorstellen, worum es in der Politik tatsächlich geht. Natürlich träumt der Politiker davon, sein Volk zu irgendeinem „Sieg“ zu führen und durch eine politische Großtat in die Geschichtsbücher einzugehen. Aber darauf kommt es nicht an. In jedem Fall bleibt ihm etwas anderes, das Entscheidende: „Macht macht Spaß!“

Das haben nicht nur Monarchen und Diktatoren gemerkt, sondern auch heldenhafte Revolutionäre und aufrechte Demokraten. Es muss nicht die große, weltbewegende Politik sein. Auch als Landesfürst oder Bürgermeister kommt man auf seine Kosten. Das Flair, das Ambiente macht den Reiz des Regierens aus. Die Unterwürfigkeit der Umgebung, die Blitzlichter der Presse, das Bad in der Menge, das Sagenhaben, die Würde des Amtes und der Repräsentation – das alles tut sehr, sehr gut. Das lässt manch bittere Demütigung, manche Niederlage vergessen.

Und wenn die Regierungschefs in ihren Staatskarossen vorfahren und in Schlössern gemeinsam an Festbanketten tafeln, dann ist es beinahe wie in alten Zeiten, als die Mächtigen der Welt noch unter sich waren und nicht den Argwohn des Pöbels fürchten mussten.

Die Angst der Politiker ist unbegründet. Sie brauchen sich ihrer Privilegien nicht zu schämen und dürfen sie ohne schlechtes Gewissen genießen, auch wenn sie emphatisch „Gleichheit“ predigen. Das Volk stört sich nicht daran, wenn sein Präsident in einer Fürstensuite logiert oder wenn Genosse Parteichef kaviarbekleckert in einer Luxuslimousine spazieren fährt. Es hat sich noch nie darüber gewundert, dass Demokratie und Monarchie händchenhaltend durch die Weltgeschichte flanieren. Es jubelt dem Stellvertreter Christi zu, wenn er sich in Brokat,, gold- und edelsteingeschmückt präsentiert.

 

Ihr Mächtigen der Welt, seid unbesorgt! Euer Fußvolk ist auf eine liebenswerte Weise kindlich. Der „mündige Bürger“, Wunschtraum und Schreckgespenst zugleich, ist nicht in Sicht. Es wäre auch furchtbar. Man stelle sich vor: eine tausendköpfige Herde mit tausend Möchtegern-Leitbullen!

Und ihr, die ihr den Mächtigen zujubelt, man kann euch verstehen. Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass man bedeutungslos ist, ein Nichts? Was gibt es Angenehmeres als die Vorstellung, unter der Obhut der Herrschenden von der Woge der Zeit weggetragen zu werden; sich als winziges Sandkorn inmitten einer majestätischen Wanderdüne treiben zu lassen, wohin der Wind es will?

 

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