3. Was sie dir
erlauben
Man
gestattet dir, dem braven Bürger, beinahe so etwas wie ein Doppelleben…
Heimliches Doppelleben
Deine Arrangements sind vernünftig,
vielleicht sogar optimal. Dein Lebenswandel ist überaus moralisch und du
funktionierst. Doch dessen bist du dir sicher: Das kann nicht alles sein! Da gibt
es neben dem geduldigen ein störrisches Ich, das die Last der Pflichten und
Zwänge abzuschütteln sucht. Es hat sich einen Rest trotziger Auflehnung gegen
die Normen bewahrt und schaut sehnsüchtig über das Gatter in die große
Freiheit.
Dieses genormte und normale Leben kann
nicht alles sein. Bei allem Wohlwollen – die Ordnung ist langweilig, die Moral
schmeckt fade und bloßes Funktionieren ödet an. Was sich da täglich abspielt,
ist grau in grau; nivelliert, ohne Höhen und Tiefen. Die Sinne greifen nicht an
der sterilen Oberfläche, die Gefühle sind auf laue Mittelwerte geeicht. Es
fehlen Geschmack, Intensität und Würze. Alles ist merkwürdig ritualisiert,, festgelegten
Spielregeln unterworfen, wie in Zellophan verpackt und vor dem spontanen Zugriff
geschützt.
Irgendwo existiert noch ein
ungebändigtes, lüsternes Rest-Ich, das sich mit diesem dünnen Aufguss von Leben
nicht zufrieden gibt. Es ist fasziniert von allem, was auf dem Index des
Verbotenen steht – was sorgsam unterdrückt, verdrängt oder wegzensiert wurde.
Dieses dein Ich, bescheiden bis zur
Einfalt, angepasst bis zur Gesichtslosigkeit, Atom in einer amorphen Masse,
möchte Form gewinnen, auskristallisieren, Gesicht und Geschichte haben – es
möchte leben.
Die Kultur weiß um deine Nöte. Sie
kennt den Sog, den das Vakuum an Leben ausübt. Wer sein Pferd bei Laune halten
will, muss die straffen Zügel wenigstens zeitweise lockern. Man gestattet dir,
dem braven Bürger, beinahe so etwas wie ein „Doppelleben“. Du darfst dich nach
getaner Arbeit heimlich aus dem banalen Alltag fortschleichen in den Dschungel
der verbotenen Leidenschaften. Du darfst die Maske des Biedermannes ablegen und
Held, Lüstling oder Bösewicht spielen.
Das Land „Utopia“, wo sich deine
Träume vom Leben erfüllen, kann nicht die Wirklichkeit sein. Es liegt in der
Phantasie und ist ebenso wirklich und unwirklich wie diese. Im Traum, wenn das
Unbewusste in Angst, Aggression und Lust gewissermaßen „Selbstbefriedigung“
betreibt, bekommst du zu spüren, wie packend hautnah phantasierte Erlebnisse
sein können. Da fließt Angstschweiß und Sperma.
Deine Tagträume, oder besser gesagt:
deine Träume nach Feierabend, erreichen zwar nie die Intensität der nächtlichen
Phantasieorgien, aber es haftet ihnen ein Hauch Wirklichkeit an – genug, um
dich immer wieder ins Reich der Phantasie zu locken, in jenes letzte
Reservat für ungebrochene und unzensierte Lebenslust. Zum Glück kann kein
Fremder in dein Traumland hineinschauen. Wie sagt doch der Dichter? „Die
Phantasie ist frei!“ Oder: „Wie es da drinnen aussieht, geht niemand was an!“
Den imaginären Ausbruch aus der
bürgerlichen Existenz schaffst du nicht alleine. Spezialisten für Phantasie,
„Künstler“ genannt, haben sich deiner Sehnsüchte angenommen und bieten dir als
Fertiggerichte an, was du dir selbst nicht vorzustellen wagst.
Das Angebot an Phantasieprodukten ist
wahrlich „phantastisch“ und lässt ahnen, was unter der Oberfläche brodelt.
Kunst als Offenbarung eines unterirdischen Vulkans? Da sprüht nicht nur
gleißendes Feuer; es steigen auch übel riechende Dämpfe auf.
Im Bereich des imaginären
„Zweitlebens“ sind die lähmenden Gesetze der Moral gelockert, ebenso die
Fesseln der Scham und Selbstbescheidung. Mit der Kunst wird bekanntlich
liberaler umgegangen als mit dem „wirklichen“ Leben. Weiß man doch, dass es nur
Koketterie mit dem Verbotenen ist, ein ungefährliches, spielerisches Als-ob.
Schließlich suchst du den Kontrast,
nicht den Abklatsch deines gewöhnlichen Lebens. Die Kunst komprimiert,
idealisiert, karikiert, pervertiert; sie stößt in exotische Randbereiche vor,
übertritt die Normen und stellt sie mit Vergnügen auf den Kopf. Ob sie die
Wirklichkeit idyllisch verklärt oder trotzig pervertiert – immer ist es eine
Antiwelt zu deiner Welt. Wie anders könnte sie dich aus Trott und Lethargie
reißen.
Wer will es dir verübeln, dass du aus
dem grauen Einerlei in eine kitschige, rosarote Idylle entfliehst oder dass du,
zur Harmlosigkeit verdammt, wenigstens in der Phantasie den Exzess genießt?
Der Streit um die „wahre“ Kunst ist
müßig – interessant nur für Leute, die sich an ästhetischen Problemen aufgeilen.
Jede noch so verlogen erscheinende Kunst hat einen, wenn auch ungewollten
Wahrheitsgehalt: Verkehre alles, was die Phantasieprodukte darstellen, ins
Gegenteil und du weißt, wie das Leben dessen aussieht, der sie konsumiert.
Die Gilde der Kunstkritiker ist
regelmäßig entsetzt, wenn nach ihren Kriterien mittelmäßige Bücher oder Filme
zu Bestsellern avancieren. Das Publikum schert sich nicht um elitäre
Wertmaßstäbe. Es sucht sich aus, was ihm am besten schmeckt. Und das wird
gegenwärtig unter der Formel Sex, Crime und Action gehandelt. Überflüssig, darauf hinzuweisen, dass sich
dahinter die uralten Dauerbrenner der Kunst: Liebe, Kampf und Abenteuer verbergen. Offensichtlich hat
sich an der Situation des Kulturmenschen im Lauf der Geschichte soviel nicht
geändert. Geändert hat sich allerdings, den Moralisten zum Leidwesen, Geschmack
und Einstellung des Konsumenten.
Träume bewegen sich immer zwischen
tabuverklärender Idylle und tabubrechendem Exzess. Die Idyllevarianten
„romantische Liebe“, „fairer Zweikampf“ und „heldenhafte
Abenteuer“ werden zwar immer noch in Nostalgieprodukten oder Weltraummärchen
einem kindlich naiven Publikum als süße Lutscher angeboten. Die Massenprodukte
sprechen jedoch eine andere Sprache. „Sex, Crime und Action“, das ist die
Antiidylle – die Demontage von Idealen, an die keiner mehr so richtig glaubt.