Crime – oder – Die Lust am Bösen
Wir können uns eigentlich nicht
beklagen. Mit kriminellen Akten aller Art sind wir reichlich eingedeckt; die Statistik
zeigt stabile Zuwachsraten. Das sogenannte „Böse“
grinst uns täglich aus Zeitungs- und Fernsehberichten an. Doch offensichtlich
reicht es nicht aus, den Appetit von Otto Normalverbraucher zu stillen. Wann
wirst du schon selbst einmal in ein Verbrechen verwickelt, und wann darfst du
Rache üben für die Bosheiten, die man dir täglich fein dosiert unterjubelt?
„Boshaft, kaltblütig, rücksichtslos“ –
in diesem Orchester der Dissonanzen und schrillen Töne würdest du nur zu gerne
einmal kräftig mitspielen. Du gibst dir zwar redlich Mühe, deine Aggressionen
gleichmäßig auf deine Umwelt zu verteilen, doch außer ein paar bescheidenen
verbalen Attacken tut sich nicht viel. Die geballte Faust bleibt in der Tasche,
und wenn du ehrlich bist: Ballt sich deine Faust überhaupt noch? Ärger ist dein täglich Brot. Zu Zorn, Hass oder Wut reicht es
nicht aus. Derlei Gefühle werden anderswo als im mickrigen Alltag bedient.
Beim Thema Aggression ist es ähnlich
wie beim Sex. Die Idyllevariante – romantische Liebe im Weichzeichnerlook – mag
etwas für kindlich naive Gemüter sein; der Erwachsene verlangt nach kräftigerer
Kost. Der edle Wettstreit zweier Helden hat vielleicht noch die alten Griechen
entzückt. Das Publikum der Moderne möchte „pornografische“„
Aggressionen sehen. Sein Interesse konzentriert sich auf die destruktiv
gefärbte Aggression.
Gewaltakte jeder Art, von der subtilen
Bosheit bis zum brutalen Amoklauf – Fäuste, Schießeisen und Blut –, üben auf dich
eine magische Faszination aus. Faszination entsteht bekanntlich nur, wo
unterschwelliger Appetit herrscht.
Man kann dir deine Lust am Bösen kaum
verübeln. Begraben in einer anonymen Masse, sachte gedemütigt in Beruf, Ehe und
Familie, einem Superreglement unterworfen, das dich keine Sekunde aus den Augen
lässt, verspürst du heimliche Lust, das feinmaschige Netz um dich zu zerreißen
und den Weg der Zerstörung anzutreten. Die von dir abverlangte permanente
„zwangssoziale“ Gutmütigkeit provoziert den imaginären Ausbruch ins „Asoziale“.
Die Kunst hat ihre Tabuängste, Scham
und Prüderie gegenüber aggressiver Gewalttätigkeit weit früher abgelegt als
gegenüber dem Sex. War der Liebesakt in der Kunstszene bis vor einiger Zeit
noch tabu – dem Tötungsakt darf das Publikum schon lange beiwohnen, dem Mörder
bei seinem Handwerk zusehen. Mit Lust und Grauen darfst du gewissermaßen selbst
die Schlinge um den Hals des Opfers legen oder die tödlichen Schüsse abfeuern.
Die Mischung aus Sex und Crime hat
sich als die zweifellos prickelndste Variante bewährt. Welcher Mann träumt
nicht bisweilen davon, die verschlossenen Türen gewaltsam einzutreten? Und
welche Frau wünscht sich nicht insgeheim, die Männer hätten weniger Ehrfurcht
vor ihrem „Allerheiligsten“?
Moralische Empörung und heimliche Lust
halten sich die Waage. Blitzschnell kannst du die Rollen tauschen. Erst brichst
du brutal Regeln und Gesetze, um dich im nächsten Augenblick mit dem
geschundenen Opfer zu identifizieren und Sühne für das Verbrechen zu fordern oder
besser noch, selbst den unbarmherzigen Rächer zu spielen.
Täter, Opfer, Rächer – Kaltblütigkeit,
Mitleid, Zorn – drei Rollen, drei Gefühle! Wo gibt es das im Leben? Dein
sauberer, steriler Alltag kann es gewiss nicht mit diesem faszinierenden
Konzentrat aus schmutzigem, von Ungeziefer wimmelndem Leben aufnehmen.
Es ist schon merkwürdig. Du kannst
keiner Fliege etwas zu leid tun und verabscheust die
Unterwelt. Tagsüber bist du lieb und lächelst. Doch nach Feierabend ziehst du
dir „Crime“ wie eine Droge rein. Wie kann ein so harmloser, überaus gutmütiger
Mensch so süchtig nach dem Bösen sein?