Das perfekte Medium

 

Faszination „Fernsehen“

 

Nicht nur perfekt sollte die Illusion sein, sondern auch jederzeit präsent und verfügbar. Mit zunehmender Langeweile bist du auf die tägliche Dosis „Illusion“ angewiesen. Bücher, Zeitungen, Radio, Fernsehen, Schallplatte und Kassette  – diese Erfindungen liegen alle auf der gleichen Linie. Die Illusion wird in ein jederzeit abrufbereites Produkt verwandelt und direkt ins Haus geliefert. Der Konsument muss nicht mehr auf irgendwelche Veranstaltungen warten und zeitweise illusionsabstinent leben.

Das Fernsehen ist zweifellos die geniale Synthese seiner Vorgänger. Es arbeitet mit dem perfekten Medium „Film“ und unterstützt die Rückzugsmentalität des sozial isolierten Massenmenschen in die eigenen vier Wände.

Die Qualitätsmängel – das kleine zweidimensionale Bild und der bescheidene Ton – sind zu verbessern. Sie werden durch den entscheidenden Vorteil aufgewogen: Der Lebensspender ist im Wohnzimmer jederzeit bequem zu erreichen. Das Programm ist prallvoll an Aktualität und Leben. Denn das Fernsehen ist ein schnelles Medium. Es reagiert prompt und sensibel auf die Ereignisse und liefert sie brandaktuell, sozusagen „noch warm“ ins Haus.

„Information“ heißt das Zauberwort. In der Flut von Informationen droht die Kunst unterzugehen. Die Information über Fakten und Ereignisse ist das erfrischend reale, aktuelle Pendant zu jenen irrealen, zeitlosen Phantasieprodukten der Kunst.

Die Kunst ist schwerfällig, hinkt ewig hinterher. Bis sie ein Thema verarbeitet hat, ist es längst überholt. Dann kommt dieses langweilig Zeitlose, Wesentliche heraus, womöglich mit Anspruch auf Ewigkeit, gerade gut genug für goldbedruckte Lederbände im Bücherschrank, um die man einen großen Bogen macht. Diese Art von Kunst ist nur mit Regiegags zu neuem Leben zu erwecken: Nathan der Weise im Punkerlook, ein barbusiges Gretchen oder ein rüder Faust.

Das Leben ist zeitlos genug. Das Publikum hat Bedürfnis nach Einmal- und Wegwerferlebnissen, produziert für den flüchtigen Augenblick. Die „Information“ ist die wirkungsvollste Variante der Illusion, am Leben teilzuhaben. Allabendlich sitzt die Fernsehgemeinde vor dem Bildschirm und saugt gierig wie ein trockener Schwamm die Nachrichten aus aller Welt auf.

Als Mensch in der Masse hast du deine Anführer längst aus den Augen verloren. Nun darfst du sie wenigstens am Abend auf dem Bildschirm bewundern und auf ihre Versprechungen lauschen. Sie plustern sich auf und beweisen dir ihre Existenzberechtigung. Das tägliche politische Gerangel ermuntert dich, Partei zu ergreifen und deinem Kandidaten Beifall zu klatschen. Das macht die Politik so erregend: Es geht um dein Schicksal!

Die Nachrichten über gefährliche Entwicklungen im In- und Ausland vermitteln die Illusion von Dramatik. Die Kriegsberichte aus fernen Kontinenten werden mit der Andeutung gewürzt, der betreffende „Krisenherd“ stelle eine Gefahr für den Weltfrieden dar, bedrohe also auch dich, den harmlosen Zuschauer. Auf dem Pulverfass sitzen, Bierchen trinken und Erdnüsse knabbern: das ist die dramatisch gefärbte Lust des Fernsehzuschauers.

Gemäß dem journalistischen Grundsatz: „Nur schlechte Nachrichten sind Nachrichten!“ erfährst du von Unglücksfällen, Katastrophen und Terrorakten. Das Filmmaterial ist nicht prüde, man möchte etwas von der Grausamkeit dieser Welt miterleben. Ein Glück, dass sich Leute irgendwo die Schädel einschlagen, dass Menschen verhungern oder in Naturkatastrophen elend zugrunde gehen. Diese grauenhaften Spektakel sind das Kontrastprogramm für deine gesicherte, geordnete Existenz. Umso angenehmer das wohlige Gruseln, noch einmal davongekommen zu sein. Es festigt deine Überzeugung, dass es dir doch recht gut gehe. Es ist zwar nur eine illusionäre Zufriedenheit, die vom Vergleich mit dem Unglück anderer lebt, aber immerhin, sie tröstet.

Auch der Zorn des Kleinen Mannes darf sich vor dem Bildschirm entladen. Wahrheitsbesessene Enthüllungsjournalisten machen Jagd auf honorige Prominenz und werden fündig in Sachen „Skandal“. Die Moderatoren diverser „Magazine“ legen den Finger auf die Wunden der Nation. Was da an tiefer Empörung und triefenden Appellen losgelassen wird, könnte jeder Kirchenkanzel zur Ehre gereichen.

Die Hygienewächter der Nation haben ein dankbares und treues Publikum. Der Fernsehzuschauer ist froh, wenn er seine latente Unzufriedenheit thematisch artikulieren und aggressiven Frust in seiner hochwertigsten Form, als „moralische Entrüstung“ abreagieren darf.

Nachrichten- und Magazinsendungen beweisen es, dein Leben ist voll heimlicher Dynamik. Es passiert mehr, als dein bescheidener Alltag erahnen lässt. Manches könnte dich treffen – das erschütternde Unglück, die heimtückische Krankheit, die tödliche Waffe. Du bist launischen Schicksalsmächten ausgeliefert. Und wenn die Natur es gut mit dir meint, bist du noch lange nicht vor politischen oder wirtschaftlichen Katastrophen sicher. Wie das Morgen aussieht, weiß keiner, nicht einmal die Wetterpropheten. Dein Leben ist ein einziges Abenteuer.

Dennoch, das politische Spektakel wirkt auf Dauer ebenso ermüdend wie das ewig moralisierende Wiederkäuen der Kommentatoren. Selbst Katastrophenberichte haben den schalen Beigeschmack der Wiederholung, des Schon-einmal-Dagewesenen. Wirklich Neues und Positives geschieht nur in der Wissenschaft. Die fernen Kontinente sind zwar entdeckt. Doch auf der Karte des Wissens gibt es noch genügend „weiße Flecken“ zu erforschen. Als Fernsehzuschauer begleitest du die Wissenschaft auf ihren abenteuerlichen Expeditionen in Mikro- und Makrokosmos.

Du darfst beobachten, wie munteres Sperma und majestätische Eizelle sich vereinen; wie der Fötus, nackt und gnomenhaft, in der Fruchtblase schwimmt. Wissenschaftliche Neugier befreit dich ebenso wie künstlerische Ambitionen vom Verdacht des Voyeurismus.

Beinahe faszinierender als die Wunder des Lebens sind die Wunderwerke der Technik. Dort in der „Hightech“ sind die Dinge in Bewegung. Überall sonst herrschen Stillstand, Leerlauf, Routine, bestenfalls oberflächliche Variation oder formales Experiment. Nur in Wissenschaft und Technik ist die Zukunft einen Türspalt weit offen. Nur dort sind Wandel und Fortschritt zu erwarten. Was Wunder, dass die Sendungen aus Forschung und Technik die leicht angestaubten „Kulturmagazine“ verdrängen wie das Sachbuch die schöngeistige Literatur.

Wissen ist Macht! Wissenschaftliche Erkenntnisse geben dir das Gefühl von Sicherheit. Du tappst nicht mehr wie der Romanheld im Dunkeln, ein Spielball von Zufällen, Intrigen und dumpfen Leidenschaften.

Die Wissenschaft weiß Bescheid – wie alles läuft, warum es so läuft und wie man in den Lauf der Dinge eingreifen kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Wissenslücken geschlossen, die noch ungelösten Probleme lösbar sind. Der TV-Populärwissenschaftler dolmetscht das schier Unbegreifliche auf das Niveau des Durchschnittsbürgers herunter. In väterlich gelassenem Ton erläutert er den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft und deutet ungeahnte Möglichkeiten für die Zukunft an.

Du staunst, ahnst und begreifst. Du darfst am Fortschritt der zivilisierten Menschheit teilhaben. Das stärkt deinen Glauben an die Segnungen dieser Kultur. Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik ist der Silberstreif am Horizont, der Hoffnungsschimmer über einer zuweilen düsteren und makabren Wirklichkeit. Es ist die gute Nachricht gegenüber den vielen schlechten Nachrichten.

Der forschende Mensch im Kampf mit des Geschickes Mächten! Eines Tages wird er es schaffen und sagen dürfen: „Siehe, jetzt ist endlich alles gut!“ Kann uns das Fernsehen eine frohere Botschaft als diese verkünden?

 

Leseproben | Home