Der ideelle Weg zum Glück
Drogen und Tranquilizer sind der biochemische Weg zum Glück. Seit jeher
suchte der Mensch auch nach der ideellen
Erlösung aus seiner in mancher Hinsicht fragwürdigen Situation. Allen voran
waren es die Religionen, die beruhigenden Trost spendeten und euphorische
Hoffnungen auf eine selige Zukunft weckten. Ob animistische Kulte oder Hochreligionen,
ob Christentum, Islam oder Hinduismus – das macht keinen großen Unterschied. Im
Prinzip geht es immer um das Gleiche: einen zornigen Gott mittels eines Opfers
gnädig zu stimmen, um selbst in einen gottähnlichen Zustand zu gelangen.
Die Religionen bedienen sich eines
genialen Interpretationstricks. Sie degradieren das Leben auf dem Planeten Erde
zu einem zweitrangigen Vorspiel. Das eigentliche Leben, die „Fülle des Lebens“,
soll erst nach dem Tod in einer anderen, jenseitigen Welt beginnen. Jeder hat
die Chance, in jenes vollkommene Paradies zu gelangen, wenn er nur glaubt.
Diese phantastische Zukunftsvision
eines totalen Happyends hat eine wahrhaft drogenähnliche Wirkung. Sie
anästhesiert, d. h. sie macht unempfindlich gegenüber jeder Art von Leiden und
Frustration. Sie bewirkt Gelassenheit gegenüber dem Geschehen im „Jammertal“
Erde, und sie erzeugt euphorische Gefühle in Erwartung der ewigen
Glückseligkeit. In der Sprache der Moderne ausgedrückt, ist die Religion
Tranquilizer und Antidepressivum zugleich.
Lohnt es sich überhaupt noch, sich mit
den Religionen abzugeben? Sind sie nicht Anachronismen geworden? Am Beispiel
Christentum: Seine Blütezeit ist längst vorbei. Ein paar alte Frauen und Kinder
im Schummerlicht mittelalterlicher Kirchen können das Christentum ebenso wenig
retten wie die modisch aufflackernden jugendlichen Jesus-People-Bewegungen, die
sich gewöhnlich bald verflüchtigen – junge Triebe an einem morschen,
halbverfaulten Baum.
Dennoch, es wäre naiv zu glauben,
christliche Religion und Denkungsweise hätten sich in der Moderne in ein Nichts
aufgelöst. Die christliche Kirche ist zwar nur noch ein Torso, aber sie konnte
entscheidende Machtpositionen behaupten. Sie schwingt den Weihwasserwedel über
dem Säugling, um den Teufel aus ihm auszutreiben. Die Macht frühkindlicher
Prägung ausnützend, ergreift sie schon im Kindergarten Besitz vom Denken des
Kindes. Sie stiftet den Bund fürs Leben, und sie lässt deinen Sarg unter
Weihrauch und frommen Sprüchen in die Erde.
Manches an magisch-mythischem Denken hat
sich in die Moderne gerettet. Da flackern immer wieder in irgendwelchen
frustrierten Regionen religiöse Erneuerungsbewegungen auf, von machthungrigen
Mullahs angepeitscht, und geldgierige Gurus lauern darauf, dass sich der
Wohlstandsbürger enttäuscht von seinem bisherigen Leben abwendet und in
spirituelle Ideale flüchtet.
Es dürfte noch ein paar Jahrtausende
dauern, bis der Homo sapiens die Kinderkrankheiten seines erwachenden
Bewusstseins überwunden und das von Ängsten und Wunschträumen verzerrte religiöse, sprich: magisch-mythische Denken abgelegt hat.
Vorerst ist mancher noch ein Zwitter
aus Mittelalter und Neuzeit. Die Kirchen sind, nüchtern betrachtet, die
finanzkräftigsten Versicherungsträger der Welt. Denn so viel infantile
Restangst hat sich bei den Millionen im Säuglingsalter getauften und
eingeschriebenen Mitgliedern erhalten: Es könnte doch etwas „dran“ sein, an
Himmel und Hölle. Da möchte man es mit der Institution, die über den Eintritt
ins Paradies wacht, nicht verderben. Man bezahlt geduldig seinen
Mitgliedsbeitrag, auch wenn er bisweilen hoch ist. Schließlich geht es um das
„ewige Leben“.
Man könnte die christlichen Kirchen
auch als eine Art Glückslotterie bezeichnen. Finanzieller und moralischer
Mindesteinsatz lassen sich erbringen. Man hofft aufs große Los im Jenseits,
versäumt es aber nicht, sich seinen Anteil am Glück schon im Diesseits zu
sichern. Das eine schließt das andere nicht aus. Jener Jesus von Nazareth
konnte das in seiner naiv extremen Denkweise nicht verstehen.
Auch die Kirche hat sich längst vom
schwärmerischen Extremismus ihres Gründers verabschiedet und sich im Diesseits
eingerichtet. Sie erteilt jedwedem System Absolution und Segen, solange sie nur
überleben darf.
Doch es ist mehr als nur politisches
Kalkül, wenn Staatsmänner nach Rom pilgern und wenn der Papst den Genossen
Parteichef empfängt. Es ist das Symbol eines unbewussten Paktes, einer
gemeinsamen, ungebrochenen Tradition. Gelänge es, sie aufzudecken, würden sich
Papst und Politiker als Gesinnungsgenossen entpuppen, die sich bei aller
ideologischen Spiegelfechterei heimlich zuzwinkern.
Auch die Prominenz aus Wissenschaft
und Wirtschaftsleben hätte allen Grund, den Ring des Patriarchen zu küssen.
Vermutlich ahnen sie nicht, was sie dem Christentum verdanken. Wäre das
Abendland und sein Ableger, die Neue Welt, jemals so erfolgreich geworden,
hätte ihnen nicht das Christentum als kulturfördernde Religion par excellence
zur Seite gestanden?
Sicher, es entwickelte sich manches
anders, als es sich die Kirche gewünscht hatte, wir leben gewissermaßen im Zeitalter
des „Antichristen“. Doch das kam nicht von ungefähr. Es wäre amüsant, der
Kirche ihre Rolle als unfreiwilliger Geburtshelfer der Moderne deutlich zu
machen.
Verzichten wir auf dieses diabolische
Vergnügen! Überlassen wir die Religionen den Archäologen, die mit Begeisterung
im Schutt vergangener Jahrtausende nach Scherben suchen und über grausigen
Skelettresten in Verzückung geraten. Wenden wir uns dem Glaubensbekenntnis der
Moderne zu. Modrige Überreste aus der Vergangenheit werden wir auch hier
genügend zutage fördern.