5.
Woran sie glauben
.
Hinter der Fassade der
Ideologielosigkeit schimmert das Grundmuster der Ideologie durch…
Der ideologische Background
Die westliche Industriekultur gibt
sich pluralistisch, scheinbar ideologielos. Man ist um das Image liberaler
Großzügigkeit bemüht. Die „Freiheit des Einzelnen“ wird ganz groß geschrieben.
Doch wie viel Freiheit gesteht man dir tatsächlich zu? Wirst du nicht von
Kindheit an permanent beeinflusst, in bestimmte Bahnen gelenkt und in fatale
Abhängigkeiten manövriert? Ist in dieser pluralistischen Gesellschaft tatsächlich
Platz für Andersdenkende? Wie viele sind es, die nicht auf die
unausgesprochenen Dogmen der alleinseligmachenden Industriekultur hereinfallen?
Sicher, die Moderne verbietet nicht
den „Ausstieg“. Sie droht nicht mit Folter und Scheiterhaufen, sie weckt auf
sublimere Weise Überlebensängste. Das Gespenst des stagnierenden oder fallenden
„Lebensstandards“ lässt alle Zweifel im Keim ersticken.
Die Industriekultur arbeitet nicht mit
plumpen Drohungen, sie „überzeugt“ durch ihre Erfolge. Auf Gewalt kann sie
verzichten, weil sie die Kunst der Verführung perfekt beherrscht. Dennoch,
hinter der Fassade der Ideologielosigleit schimmert das Grundmuster der
Ideologie durch. Notstand, Paradies und Moral bilden
zusammen die heilige Dreieinigkeit einer jeden Ideologie, ob religiös oder
weltlich.
Der „Notstand“ des Modernen hat viele
Gesichter. Er reicht von den klassischen Problemen: Krieg, Krankheit und Tod,
bis zu dem subtilen, undefinierbaren Gemisch aus Angst und Unzufriedenheit, aus
Trauer und Gereiztheit, mit einem Hauch von Leere und Langeweile.
Den alten Traum vom „Paradies“, von
der Erlösung aus allem Übel und vom Weg in die Gottähnlichkeit, hat der Mensch
nie aufgegeben. Er ist die ungebrochene Leitidee der kulturellen Evolution, die
ja genau genommen nichts anderes darstellt als den Versuch des Menschen, es
stetig „besser“ haben zu wollen. Evolution als Prozess eines sich entwickelnden
oder sich selbst erschaffenden Gottes?
Den totalen Bruch in der Geschichte
der Menschheit gibt es nicht. Die Kehrtwende besteht höchstens in einer neuen
Blickrichtung, in dem Versuch, die Idee Paradies
und Göttlichkeit auf andere Weise als
bisher zu verwirklichen.
Am Ende des magisch-religiösen
Zeitalters ist der Mensch des Jenseits und der gepredigten Liebe zu jenem
„reinen Geist“, „Gott“ genannt, müde geworden. Er lässt sich nicht mehr mit
vagen Zukunftsversprechen abspeisen.
Das Christentum hat sich seinen
eigenen Totengräber herangezogen. Indem es sich mit aller Kraft der Übernatur zuwandte, provozierte es bei
wenigen standhaften Zweiflern eine geradezu voyeuristische Neugier auf die Natur. Der Aufbruch der
Naturwissenschaften bedeutete den Niedergang der alles beherrschenden Theologie
des Mittelalters. In einem unbewussten Protest gegen die aufoktroyierte
Übernatur und gegen das materielose Spekulationsobjekt „Gott“ wandte man sich
der Natur und der erfahrbaren Materie zu. Man wollte Wissen und Gewissheit
anstelle des überstrapazierten Glaubens. Die Fernrohre der Astronomen richteten
sich auf den Kosmos, der Planet Erde wurde mit Begeisterung und Akribie neu
entdeckt.
Die Religion stand der
Naturwissenschaft von vornherein skeptisch gegenüber. Dieser neue Drang, alles
zu wissen, musste ihr wie ein zweiter Sündenfall vorkommen. Wieder aß die
Menschheit vom verbotenen „Baum der Erkenntnis“. Die Kirche ahnte, dass der
Mensch, wenn er sich erst einmal dem Diesseits zuwendet, sein Interesse am Jenseits
vollends verlieren würde.
Tatsächlich ließ sich die
„Säkularisierung“, die Verweltlichung des Denkens, nicht mehr aufhalten – nicht
einmal innerhalb der Religion. Panische Abwehrreaktionen, Folter und
Inquisition hatten auf Dauer keinen Erfolg. Die Menschen waren nicht mehr
gewillt, rational einleuchtende, beweisbare Fakten irgendwelchen
Glaubensmaximen zu opfern.
Die Natur wurde Stück um Stück
entmystifiziert. An die Stelle „göttlichen Waltens“ traten die unabänderlichen,
unbeirrbaren Naturgesetze. Das Bittgebet wurde überflüssig. Die Religion und
ihre „Übernatur“ gerieten ins Abseits der Interesselosigkeit. Das Jenseits
hatte gegen das Diesseits verloren.