Plädoyer für die Mythen
Die
Mythen, ob transzendental oder säkular, üben anscheinend eine unwiderstehliche
Anziehungskraft aus. Wie also mit ihnen umgehen, wie sie beurteilen? Haben sie
trotz ihres obligatorischen Scheiterns in der Geschichte ihre Berechtigung,
einen Sinn? Braucht der Mensch solche »Erzählungen«? Was ist ihr gemeinsamer
Nenner? Welchen Nutzen haben sie noch in der so kühlen, scheinbar rationalen
Gegenwart? Was von ihnen könnte in einen neuen, zeitgemäßeren Mythos
hinübergerettet werden?
Mit Arroganz, bloßer Skepsis oder Verdammung ist es
nicht getan. Wie könnte ein Plädoyer für die Mythen aussehen? Sind sie
vielleicht gar nicht des Teufels? Müssen sie nur neu gedeutet und bewertet
werden? Sind die Versuche einiger Intellektueller, die Moderne als post-ideologisch, post-utopisch, post-historisch,
post-religiös oder post-säkular zu bezeichnen, einfach nur
kurzsichtig? Übersehen sie womöglich den eigentlichen Kern des Mythos und die
schier unerschöpfliche Kraft, die sich hinter all diesen Versuchen des
menschlichen Geistes verbirgt?
Das Pro ist
leicht anzustimmen. Der Mythos
versucht, Antworten auf die existenziellen Ängste und Wünsche zu finden. Für
ihn spricht sein Streben nach etwas »Höherem«, wider die Enge und Begrenztheit
des gewöhnlichen Lebens. Es ist die Neugier, die Sehnsucht nach Ausweitung,
nach dem Überschreiten von Grenzen, das den Menschen seit jeher antreibt. Der
Auszug aus dem afrikanischen Ursprungsland, vom jüdisch-christlichen Mythos als
»Vertreibung aus dem Paradies« bezeichnet, markierte den Beginn der
Welteroberung, eines Unternehmens, das nicht nur den Körper, sondern auch den
Geist, das Bewusstsein des Menschen herausforderte. Doch der Weg ȟber den
Horizont hinaus« war mühsam.
In dem frühen Stadium der Abhängigkeit und Unwissenheit,
des ohnmächtigen Ausgeliefert-Seins an eine in vieler Hinsicht »unheimliche«
Welt, traute der Mensch sich alleine die Verbesserung seiner Lage nicht zu und
setzte seine Hoffnung auf höhere, außerirdische Mächte. Auch konnte er sich mit
der Tatsache der Endlichkeit nicht
abfinden. Der Tod war für ihn eine stetige Bedrohung, unvorstellbar für uns,
die wir in geschützten Räumen leben.
Jeder Mythos verspricht den Weg in irgendeine Form
von »Unendlichkeit«, jenseits der gegenwärtigen Möglichkeiten. Das Jenseits des Hier und Jetzt – der Himmel als Symbol eines unendlichen
Raumes und das ewige Leben als Symbol
unendlicher Zeit – ist der Stoff, aus dem die Mythen sind. Die Unendlichkeit
ist das Terrain der Götter, das der Mensch betreten will. In letzter Konsequenz
steckt hinter jedem die Gegenwart überschreitenden Mythos der Gottesmythos. Er stellt die Summe der
menschlichen Träume dar. Seine klassischen Attribute sind Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart und Unsterblichkeit.
Was in frühen Mythen bewundert, verehrt und nur den
Göttern in einer jenseitigen Welt zugestanden wurde, hat der Mensch im Lauf der
kulturellen Evolution auf sich selbst zurückprojiziert. Er nähert sich seinem
Ziel mit zunehmender Effektivität und Geschwindigkeit. Sein ständig wachsendes
Wissen, technisch umgesetzt in allen Bereichen des Lebens, hat seine kreative
und destruktive Macht ungeheuer erweitert. Allwissenheit
und Allmacht rücken in greifbare
Nähe.
Und auch der göttlichen Allgegenwart nähert er sich per digitaler
Vernetzung und globaler Kommunikation mit Riesenschritten. Nur mit der Unsterblichkeit hapert es trotz
erstaunlicher Fortschritte der statistischen Lebenserwartung noch. Für
Optimisten ist auch hier das letzte Wort nicht gesprochen. Dem frühen Menschen
waren all diese Möglichkeiten nicht vorstellbar. Er musste das Potential, das seinem Bewusstsein verborgen in ihm
schlummerte, auf Wesen in einer anderen Welt übertragen.
Der Weg von der »Kreatur« zum »Kreator« wäre ohne das
im Homo sapiens angelegte Potential nicht möglich gewesen. Potentiale sind dazu
da, entwickelt und »ausgelebt« zu werden. Man könnte sie in der Bildsprache des
Mythos als »Auftrag« betrachten. Wenn auch nicht von einer höheren Instanz
verordnet sind sie doch wirksam als innerer Impuls, als elementarer Antrieb.
Wer seine Potentiale nicht ausschöpft, hat am Ende fast so etwas wie ein
schlechtes Gewissen sich selbst gegenüber. »Was hast du aus deinen
Möglichkeiten gemacht?« lautet die Frage, die sich so
mancher in seinen letzten Tagen stellt.
Die kulturelle Evolution, deren Beginn in der Bibel
mit der Sünde, vom »Baum der Erkenntnis« zu essen, gleichgesetzt wird, ist
nicht der Verführung Satans und einem »Sündenfall« geschuldet, sondern im
Menschen angelegt. Ihre Verwirklichung wird durch die Mythen in dem Widerstreit
zwischen Können und Dürfen, zwischen der Verlockung der neuen Möglichkeiten und
der Angst davor, teils befördert, teils blockiert.
Die Gewichte zwischen dem demütigen Hoffen auf die
Hilfe jenseitiger Mächte und dem eigenmächtigen, experimentierenden Handeln
verschieben sich sukzessive. Mit jedem Schritt nach vorn entfernen sich die
Mythen ein Stück weiter von ihren anfänglichen Vorstellungen. Im Grunde
widerspiegeln sie nur den jeweiligen Entwicklungsstand des Homo sapiens auf dem
Weg der Evolution. Sie erzählen, wovor er sich fürchtet, was er sich erhofft,
was er erwartet und was er sich zutraut, der Mensch »seiner« Zeit.
Parallel zu emotionaler Erhebung, Glücksversprechen,
Motivation und Zukunftsperspektive leistet der Mythos mit den von ihm
aufgestellten moralischen Ge- und Verboten einen Beitrag zur zivilisatorischen
Zähmung des Homo sapiens. Dieser kann ja seine kreatürliche Vergangenheit nicht
völlig verleugnen. Sie bleibt ein ewiger Stolperstein auf dem Weg »nach oben«,
in eine sublimere und differenziertere Lebenswelt. Von den Tabus der Frühzeit
über die »Zehn Gebote« bis zum modernen bürgerlichen Gesetzbuch führt ein und
derselbe Weg.
Ob Heilige Schriften oder eine säkulare Verfassung
das Zusammenleben regeln – immer sind Vorstellungen einer möglichst vollkommen
funktionierenden, befriedeten und harmonischen Gesellschaft am Werk. Es sind
utopische, aber die Entwicklung vorantreibende Entwürfe. Die fatalistische
Selbstbescheidung und Akzeptanz der jeweils gegenwärtigen Zustände, der
»Realitäten«, würden die Evolution zum Stillstand bringen. Sie würden in eine
lähmende Depression führen.
Was wäre der Mensch ohne Hoffnung auf eine »offene«
Zukunft, ohne Sehnsucht nach einem »besseren« Leben? Die Offenheit für scheinbar
Unmögliches, das Versprechen einer besseren, geradezu »göttlichen« Zukunft
macht die Kraft und den Charme der Mythen aus.