Die Moral des Modernen

 

Der Weg ins Paradies führt – wie könnte es anders sein – über eine geforderte Moral. Ohne Moral geht es nicht. Das verbindet die Spiritualisten und die Materialisten, das römische Christentum und den Moskau-Kommunismus; das schafft die herzliche Übereinstimmung zwischen Kirchenfürsten und Parteigenossen, zwischen Politikern und Wirtschaftsfunktionären.

Die Moral ist vielleicht das zählebigste, am schwersten veränderbare Element der kulturellen Evolution. Sie wird wie eine Stafette von Ideologie zu Ideologie weitergereicht. Und oft unterstützt die Moral von gestern die Ideologie von heute.

So hat beispielsweise die christliche Moral, die Leid und Selbstverzicht mit der Gloriole einer Erlösungstat umgab, den Potentaten nicht nur den idealen Untertanen geliefert – sie hat auch den zivilisatorischen Durchbruch des Abendlandes erst richtig möglich gemacht. Die griechischen und römischen Götter waren zu lasch und lebenslustig, ihre moralischen Forderungen an die Menschen waren längst nicht so auf puritanische Pflichterfüllung ausgerichtet wie die des Christengottes. Die Kultur der Antike musste an einem bestimmten Punkt stehen bleiben. Den „Fortschritt ohne Ende“ brachte erst die Moral des Christentums.

Natürlich hat sich auch auf dem Sektor Moral die Blickrichtung geändert. War jener Jesus von Nazareth noch auf das Du und Wir fixiert und verkündete er eine altruistische Nächstenliebe – ein geradezu „pornografisch“ soziales Interesse am Mitmenschen –, so hat die Moderne eindeutig das Ich in das Blickfeld gerückt; sie predigt narzisstische „Selbstverwirklichung“.

Ob dieser Narzissmus die trotzig exzessive Gegenreaktion auf die überzogene christliche Nächstenliebe, gewissermaßen ihre „Perversion“ darstellt, mag Spekulation bleiben. Sicher ist, der Moderne hat einen ungeheuren Nachholbedarf in puncto Selbstverwirklichung. Die Selbstverwirklichung ist für ihn ein Teil des Paradiesversprechens.

Überraschend, beinahe paradox muss manchem die Tatsache erscheinen, dass die „egoistische“ Motivation eine so selbstlose, sittlich hoch stehende Moral erzeugt. Denn siehe, dieser auf Selbstverwirklichung erpichte Moderne frönt weder lasterhafter Genusssucht noch frech fröhlicher Lebenslust. Im Gegenteil, er scheut keine Leistung, keinen Einsatz. Wenn er stolz von seiner „Arbeitswut“ spricht, erntet er nicht Gelächter, sondern wird bewundert und applaudiert. Jedermann sucht mit Eifer seine Produktivität, Effektivität und Kreativität zu steigern. Er bedarf nicht der Peitsche eines Sklavenhalters, er selbst spornt sich zu Höchstleistungen an. Der festentschlossene Blick auf seine hochgesteckten Ziele gibt ihm ein unerschütterliches Durchhaltevermögen.

Im professionellen Bereich schluckt er täglich eine gehörige Dosis Demütigung. Wenn ihn Chef oder Kunden beleidigen, hält er freundlich lächelnd die andere Wange hin. Das erinnert an die christliche Feindesliebe.

Und auch im privaten Bereich scheut der Moderne keine Opfer. Weil er begriffen hat, dass in der Masse Funktionieren das oberste Gebot ist, unterwirft er sich willig einer „funktionalen Moral“. Er verzichtet auf eine eigenwillige Profilierung, auf ein provozierendes Gesicht, ein abweichendes Ich. Wenn er in Zorn gerät, schweigt er; wenn er traurig ist, lässt er es sich nicht anmerken; und seine gute Laune macht ihn nicht aufdringlich. Emotional hat er sich fest im Griff.

Auch moralische „Ausrutscher“ erlaubt er sich kaum. Auf seine polygamen Lüste, die unweigerlich in chaotische Promiskuität führen müssten, verzichtet er freiwillig. Der Sinnenlust hat er längst abgeschworen. Er meidet üppige Speisen, ist zufrieden mit Vollkornschrot und züchtigt seinen Körper an allerlei Fitnessgeräten. Selbstdisziplin und maßvolle Vernunft sind ihm zur zweiten Natur geworden.

Die Last der Sünde kennt er zwar nicht; „Sünde“ klingt für ihn wie ein Fremdwort; Sünde ist allenfalls das Nachlassen von Konzentration und Leistungsbereitschaft. Stattdessen hat er sich freiwillig einen Schuldenberg aufgeladen, der ihn – wirkungsvoller als jedes Gewissen – zur Beständigkeit ermahnt und ihn tadelt, wenn Unvernunft, Übermut oder unkontrollierte Lebenslust aufkeimen sollten. Den Luxus der Lebenslust spart er sich für seinen Lebensabend auf. Ehrgeizigen Zielen und vagen Träumen von der Zukunft opfert der Moderne freiwillig seine Gegenwart.

Das erinnert alles ein bisschen an die Moral des Christentums. Den christlichen Moraltheologen sollte es eigentlich zum Tost gereichen – die egozentrische, „materialistische“ Denkungsweise der Moderne hat offensichtlich weite Teile des Ich ausgeklammert. Für spontane Lebenslust ist in der disziplinierten Leistungsgesellschaft wenig Platz.

Wer wird da noch ernsthaft von einer „Genusskultur“ sprechen? Das bisschen Spaß des Modernen, die süßen Lollis, die er pausenlos in den Mund geschoben bekommt, sind recht harmlose Genüsse. Zudem sind sie teuer bezahlt, mit Schweiß und Stress erkauft.

Es ist schon paradox: In einer Zeit, da man noch ans Jenseits glaubte und Selbstverzicht predigte, blühten Sinnenlust und Unmoral. Im „christlichen Mittelalter“ ging es bekanntlich recht deftig zu. Völlerei und Mätressentum waren an der Tagesordnung, auch bei Papst und Kirchenfürsten. Dieser jenseitige Gott samt Himmel und Hölle führte eine Randexistenz, war ein phantastischer Sonntagmorgenschnörkel. Er konnte die Vitalität des mittelalterlichen Menschen nicht brechen. Man klopfte sich zwar manchmal reuig an die Brust, stürzte sich aber sogleich aufs neue in die Sünde.

Die Ideologie der Moderne dagegen, die das Diesseits und die Selbstverwirklichung predigt, hat einen beinahe erschreckend „moralischen“ Menschentyp gezüchtet, der mit sinnlich derber Lebenslust nichts mehr anzufangen weiß. Gegenüber dem Menschen des Mittelalters wirkt der Moderne blutleer, harmlos, von engelhafter Vergeistigung. Puritanisch eliminiert er alles, was seinen Leistungswillen beeinträchtigen, seine Funktion im gigantischen Produktionsprozess stören könnte.

Und nicht nur das. Seinen Idealen bringt der Leistungsbürger geradezu „selbstmörderische“ Opfer. Die Flagellantenzüge des Mittelalters waren dagegen harmlose Spektakel. Man geißelte sich zwar bis aufs Blut, aber man überlebte und kam mit ein paar Narben davon.

Die Selbstkasteiung des Modernen ist subtiler, aber umso kompromissloser. Nicht selten führt sie zum Märtyrertod per Herzinfarkt. Noch nie wurde so freiwillig und unverzagt, ohne Gewalt von außen für die Ideologie gestorben wie heute. Eine derartige „Selbstkreuzigung“ als eine Massenbewegung hat das Christentum nie erreicht. Erst als der Mensch es lernte, sein Ich seinem eigenen Ich zum Opfer zu bringen, fand er zu den absoluten moralischen Höhen der „Selbstlosigkeit“.

 

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