Was darf ich erwarten?

 

 

Die Herausforderung

 

Homo sapiens hat von der Evolution den Geist, das Instrument für Utopie bekommen, genauer gesagt, für ein evolutives Utopie-Potential, das noch nicht ausgereizt ist. Es schlummern noch Möglichkeiten, die Wirklichkeit werden könnten. In welche Richtung zielt utopisches Denken oder Träumen, was ist die Herausforderung?

Die große Herausforderung dürfte die "Negativseite" der Wirklichkeit sein, die bitteren Realitäten wie Naturkatastrophen, Krankheiten, Mangel und Tod. Hinzu kommen die menschengemachten Grausamkeiten. Es stellt sich die Frage: Wie geht das menschliche Bewusstsein mit der Negativseite der Wirklichkeit um? Was unterscheidet das säkulare von den transzendentalen Weltbildern? Sind sie tatsächlich total kontrovers oder gibt es heimliche Parallelen?

Rufen wir uns die Negativseite der Wirklichkeit, die "Grausamkeiten" ins Gedächtnis, an denen sich die Utopien, von den Mythen bis zu den modernen Ideologien, abgearbeitet haben. Die grundlegende Grausamkeit im Bereich des Lebendigen ist das Überlebensprinzip: "Töte, um zu überleben!" Überleben geht meist auf Kosten eines anderen Lebewesens. Fast jedes Lebewesen hat "natürliche Feinde". Auch der Mensch, der sich nur zu oft selbst Feind ist, unterliegt dem gleichen Prinzip. Neben den äußeren Feinden ist es die einprogrammierte Destruktivität des Alterns, der unbesiegbare, überall und jederzeit lauernde "Feind" Tod, der den Menschen von Anbeginn an herausfordert, grausamer und tragischer noch, wenn er nicht erst nach einem erfüllten Leben zuschlägt.

Ein weiteres "Übel" dieser Welt ist die Grausamkeit des schlimmen Zufalls, "Unglück" oder "Unfall" genannt. Es ist das destruktive Zusammentreffen einer scheinbar sicheren Ordnung mit unglücklichen Umständen wie menschlichem oder technischem Versagen oder mit zerstörerischen Kräften wie Naturkatastrophen. Es ist das unberechenbare Spiel des Chaos, in der Bildwelt des Mythos das teuflische Spiel des "Diabolos", das nur zu oft bei Mensch und Natur zum Zuge kommt.

Die oft emphatisch zitierte "Schöpfung" könnte man mit gleichem Recht "Zerstörung" nennen. Und auch die vielgepriesene Ökologie ist kein harmonisches Miteinander, sondern ein komplementäres Mit- und Gegeneinander von Freunden und Feinden, wo sich Kreativität und Destruktivität in einem gewissen Gleichgewicht befinden.

Das erbarmungslose Überlebensprinzip des "Fressen-und-gefressen-Werdens" sollte genügen, das christliche Gottesbild eines "Gottes der Liebe" zu desavouieren. Die logische Schlussfolgerung - wer sich so etwas ausdenkt, kann kein Gott der Liebe, des Erbarmens sein! - dürfen die Gläubigen nicht zulassen. Die Destruktivität der Natur verdrängen sie. Also blenden sie die dunkle Seite der Natur aus oder konzentrieren sich auf positive Ausschnitte. Sie bewundern die Schönheit und Kreativität der Natur und schwärmen gar von "Naturparadiesen". Wer so euphemistisch von der Natur spricht, schaut relativ empathielos auf die Dramen und Tragödien, die sich in diesen "Paradiesen" abspielen. Er lässt die Wirklichkeit nicht oder nur in Ausschnitten an sich heran.

Um ihr Gottesbild zu retten, bedienen sich die monotheistischen Religionen eines Tricks. Sie trennen die Schöpfung in eine "Zweiklassenschöpfung" auf, in die Natur und die Kultur. Das Geschehen in der Natur bewerten sie nicht. Sie empfinden kein Mitleid und keine Empörung über das, was dort geschieht. Sie schreiben es dem Schöpfer als dem Verantwortlichen nicht zu. Sie ziehen auch keine Rückschlüsse von der Schöpfung auf den Schöpfer. Letztlich ist es der Mensch, der die Schuld an allem Elend dieser Welt trägt. Natürlich müsste man auch alles Leid, das sich in der Menschenwelt abspielt, dem Schöpfer als dem Ursprung allen Seins zuschreiben. Seine Rechtfertigung, als "Theodizeeproblem" bekannt, bleibt denn auch ein für die Gläubigen unlösbares Problem, ein "Geheimnis".

Was ist das allem zugrunde liegende Problem? Natur und Kultur stehen unter dem unvermeidlichen Gesetz der Polarität. Im Grunde geht es bei dem Entwurf von Utopien immer um die Polarität gut - schlecht, bzw. positiv - negativ. Wie interpretieren die Weltbilder die provozierende Existenz des Negativen?

Die jüdisch-christliche Tradition macht den Sündenfall der ersten Menschen, der später als "Erbsünde" interpretiert wurde, für alles Negative bis hin zum Tod verantwortlich. "Im Schweiße deines Angesichts sollst du ..." - der Überlebenskampf, den es im ursprünglichen Paradies nicht gab, wird als Strafe für den Sündenfall gedeutet. Die prinzipielle Sündhaftigkeit des Menschen begründet denn auch sein Erlösungsbedürfnis und das auf ein Jenseits gerichtete Zukunftsversprechen. Von einer "Neuschöpfung" am Ende aller Tage, wo Wolf und Lamm friedlich nebeneinander lagern, ist die Rede. Es wird das neue und endgültige Paradies sein.

Nicht nur die Jenseitsorientierten hadern mit der Wirklichkeit. Auch einigen Humanisten macht das Negative in der Welt Probleme. Da ist die Rede von "Webfehlern" und mancher hält das ganze Geschehen dank der "Nöte des Menschseins" gar für "sinnlos" und "absurd". Nur durch ein heroisches Trotzdem könne man das Leben irgendwie überstehen.

Bei beiden Weltbildern ist die Polarität positiv - negativ der Angelpunkt der Deutungen und utopischen Entwürfe. Bei der Betrachtung dieser Entwürfe muss man allerdings zu dem Schluss kommen, beide Seiten haben den Sinn der Polarität nicht verstanden.

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